Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
Vom Netzwerk:
gekritzelt war, signiert mit Datum vom Juni 1930; zwei winzige braune Fläschchen, deren Verschlüsse noch ungeöffnet waren; ein Päckchen mit drei rosa Ballons, die aufzublasen meine Lungen zu schwach waren; und ein goldenes Medaillon mit dem Photo eines kleinen Mädchens darin, bei dem es sich unverkennbar um Cosey Mo handelte. Ich verwahrte diese Sachen in einem Schuhkarton, den ich mit Zeitungspapierstreifen auslegte und » Cosey Mo, 1943 «beschriftete. Ferner nahm ich ein weißes Nachthemd mit, das ich an einem Strauch hängen fand. Ausgewrungen und getrocknet sah es frisch und sauber aus.
    Meine Kopfhaut war an diesem Tag, wenn die Erinnerung mich nicht täuscht, ein Schlachtfeld von Haarbüscheln und Blutklumpen, von Schorf und Schrammen. Später in meinem Zimmer, betupfte ich die sechs krustigen Schrunden auf meinem Schädel mit einem in Lavendelwasser getauchten Wattebausch. Es brannte heftig, als der Schorf weich wurde und sich von den klaffenden Schnittwunden abhob. Diese Scheißschere! Diese Drecksau! Oben in der Hütte hörte ich meine Mutter schadenfroh kichern über die Schweinerei, die sie angerichtet hatte. Zorn pochte mir durchs Hirn, Demütigung ließ meine Ohren glühen.
    Wäre es nicht so, daß ich, hier und jetzt im Sterben liegend, siegreich über dieses ganze Pack hinwegstrahle, dann würden Zorn und Demütigung mich zweifellos noch immer verzehren. So aber hat diese Erinnerung meine Gemütsruhe nur unwesentlich getrübt, und mit Sicherheit würde Mas massige Erscheinung zur Größe einer Mücke schrumpfen, träte sie jetzt, in diesen erhabeneren, größeren Tagen, vor mir auf.
    Mein zermetzelter Skalp duftete von Coseys Parfüms. Lavendel. Rose. Moschus.
    Die kläglichen, auf dem Boden der Hütte verstreuten Haarklumpen legte ich in den Karton mit meinen anderen Schnitzeln – also mit Finger- und Zehennägeln, abgerissenen Schwielen, Zähnen, Wimpern, Schorfstückchen und dergleichen.
    Ich hatte zweiundzwanzig Schuhkartons mit meinen Sachen unterm Bett. Cosey Mos Karton nahm ich mir immer wieder vor. Und jedesmal genehmigte ich mir ein paar Tropfen von ihrem Parfüm. Himmlische Düfte erfüllten diese Jahre meines Heranwachsens.
    Ja, aber auf Hooper’s Hill …
    Auf Hooper’s Hill suchte ich den Boden nach Spuren von ihr ab – ein wenig Blut womöglich, oder den Abdruck ihres Körpers im Schlamm. Doch hatte der kryptische Regen jegliche Geheimnisse dieses Hügels aus seinem Gedächtnis getilgt, oder aber der Hügel wollte sie einfach nicht preisgeben – so schien es jedenfalls.
    Enttäuscht, und nicht gerade freudig erregt ob der Aussicht auf meinen glitschigen Abstieg, schickte ich mich zum Gehen an und schleuderte das leere Gurkenglas, das ich für den Fall eines glücklichen Fundes mitgenommen hatte, den Hügel runter.
    Und genau da entdeckte ich zwei eigenartige parallele Furchen; sie waren einen knappen Meter auseinander, jeweils etwa fünf Zentimeter breit und doppelt so tief, und standen voll Regenwasser – böse und bedrohlich sahen diese Furchen aus, und ich folgte ihnen bis zu einer Stelle, wo der feine Schlamm völlig aufgewühlt war.
    Und dort fand ich, auf einer großen trüben Pfütze treibend, das Haar der Hure.
    Die flachsblonden Locken glänzten wie Adern puren Goldes; und als ich sie aus dem schmuddligen regenpockigen Pfuhl herausfischte, war ich doch ziemlich hingerissen von der unheimlichen Duplizität der Ereignisse – daß wir unsere Haarpracht fast gleichzeitig verloren hatten. Und als ich so da stand und mir der Regen auf den verwüsteten Skalp pißte, überwältigte mich ein Gefühl einzigartiger Schmach – ihrer Schmach –, und für einen kurzen Augenblick kreuzten die Signale meines Herzens und die der Hure ihren Weg, und ich wußte, daß Cosey Mo, wo immer sie auch sein mochte, genau in diesem Augenblick eine Hölle durchmachte, die sich ganz und gar von allem unterschied, was sie bisher erlebt hatte – meine Hölle, so wie ich gerade die ihre durchmachte.
    Die Locke, die ich sorgsam in ein Taschentuch wickelte, war das Bindeglied. Ja, so war es. Die Locke war das Bindeglied. Ja, so war es.
    Als ich schlitternd und springend und rutschend nach Hause rannte, drehten sich in meinem Kopf die Worte – die Locke war die Lösung. Die Locke war der Schlüssel. Das Schloß war der Schlüssel –
XVI
    Gegen elf Uhr an jenem Sonntagabend konnte man den rostigen roten Lieferwagen der Holfe-Brüder zu Tal fahren sehen.
    Als sie den nördlichen Eingang durchfuhren,

Weitere Kostenlose Bücher