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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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harter ehrlicher Arbeit, Gesundheit, Wohlergehens, christlicher Nächstenliebe, brüderlicher Liebe und der Liebe Gottes, all das unter der Gnade einer goldenen Sonne. Ich erinnere mich an eine Zeit, da Frieden im Tal herrschte.
    Jedoch nicht für mich. Für mich herrschte niemals Frieden im Tal.
    Wahrlich – und ich hoffe, keinerlei niedrige Gesinnung an den Tag zu legen, indem ich dies sage –, nur ein einziges Mal empfand ich eine Minderung meiner Last, und das war in der Zeit des Fluchs. Als ich seines Beharrens gewohnt wurde und in seinem schonungslosen Dreschen einen göttlichen Ursprung zu erkennen begann, ging mir auf, daß ich, Euchrid Eucrow, an dem Regen Gefallen hatte.
    Oftmals saß ich an diesen düster grauen Tagen auf der Veranda und besah mir das Tal durch den Schleier des Regens. Weit weit hinaus warf ich meinen Blick über die verwüsteten Felder und die Geisterstadt, zu der die einst so geschäftige kleine Gemeinde jetzt praktisch geworden war; und musterte den schwarzen Horizont und den malmenden Bauch des Himmels und sann über den Grund für mein relativ harmonisches Befinden nach. Da ich einem geschenkten Gaul nicht ins Maul sehen wollte, wie man so sagt, und daher befand, ich könnte mit einem allzu gründlichen Ventilieren dieser Frage nicht gut beraten sein, gelangte ich zu dem Schluß, daß Unglück, grob gesagt, ein relatives Gefühl sei, das am deutlichsten im Angesicht des Glücks empfunden werde. Und da das Tal und seine Bewohner zu jener Zeit in den Fesseln der Verzweiflung lägen, schien es mir nicht sehr verwunderlich, daß mein eigener Sack voll Elend mich beträchtlich leichter dünkte.
    Abgesehen davon, daß er Not und Trostlosigkeit zur Regel machte, hatte der Regen noch andere Vorteile. Er bot mir auch am Tage ausgezeichnet Deckung und machte es mir möglich, mich ohne Angst vor Züchtigung in die Stadt zu wagen, zumal nach dem ersten Jahr nur noch wenige Bürger aus ihren verstummten und verrammelten Häusern gingen. An manchen Tagen konnte ich, eine Dose vor mich hertretend oder ein Liedchen pfeifend, über die Maine Road schreiten und mitten durchs Ortszentrum schlendern, ohne irgend jemandem zu begegnen – und die wenigen, die ich sah, eilten mit gesenkten Köpfen und auf den Boden geheftetem Blick vorüber, als hätten sie ihrerseits Angst vor mir – hätte ich doch ein Bekannter aus freundlicheren Tagen sein können, ein Freund aus der Zeit, ehe der Regen jedermann mit Schmach übergossen hatte.
    Aber dann kam Poe – ja – und machte dem allen, machte meinem Wohlbefinden ein Ende.
XII
    An Fists Wiggams niederträchtigem Horizont strahlte eine helle Sonne auf.
    In der Absicht, den Ukuliten Abie Poes verschossene Kugeln als Souvenirs zu verkaufen, hatte der Wiggam-Junge fanatisch die Einfassung des Wunschbrunnens abgesucht und statt der Geschosse zwischen zwei Steinplatten eine Plastiktüte mit einem Brief gefunden. Er kicherte, als er ihn las, und seine Augen wurden zu Schlitzen.
     
    Lieber Sardus, mein Leib ist unfruchtbar, und ich darf dir kein Kind austragen. Ich werde in alle Ewigkeit deine Frau bleiben. Wir werden uns aufs neue vereinigen in einer freundlicheren Welt, nachdem wir in dieser bösen und furchtbaren gelebt haben. Ich harre deiner im Himmelreich, denn hier in meinem Herzen hast du deinen Platz.
    In künftiger Umarmung
    Rebecca
     
    Am Nachmittag hatte Fists den Abschiedsbrief der Selbstmörderin an die Anschlagtafel vor dem Gerichtsgebäude geheftet. Und um sechs Uhr abends gab es kaum noch eine Seele im ganzen Tal, die nicht zum Gericht gegangen wäre, um ihn zu lesen; abgesehen vielleicht von Sardus Swift selbst, der nicht mehr gesehen worden war, seit er sich ein Jahr zuvor in seine einsame Festung zurückgezogen hatte.
XIII
    Die Periode des unaufhörlichen Regens erhielt bei den Ukuliten den Namen Die Drei Jahre des Fluchs, was gleichbedeutend war mit Tod, Katastrophe, göttlicher Rache und Zerstörung. Wie aus den Zahlen zu erkennen, war die Sterblichkeitsrate am Ende des zweiten Jahres (1942) mehr als doppelt so hoch wie 1940. Und 1943 gab es dreimal so viele Todesfälle wie im Jahr vor dem Regen. Man sehe nur selbst:
     
    1940 5 Todesfälle
    1941 9 Todesfälle
    1942 12 Todesfälle
    1943 16 Todesfälle
     
    Doch wenn wir versuchen wollen, uns irgendwie mit dem Ausmaß, oder genauer der Tiefe der ukulitischen Tragödie abzufinden, sollten wir nicht übersehen, daß es am Ende des Jahres 1943 vier Ukuliten mehr gab als vor dem Regen. Dies hat

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