Und eines Tages kommt das Glück
aus Christian geworden? Dem früheren Geschäftsführer?«
»Der ist weg«, erwiderte Giselle. »Es war kein Platz mehr für
ihn, als Darragh eingestiegen ist, und du weißt doch, wie es ist … es hätte nur zu einem internen Machtkampf geführt. Es war besser, sich von ihm zu trennen. Darragh hat das erledigt, und jetzt hat er einen Job bei einer anderen Firma. War kein Problem.«
»Gut.« Romy ließ sich auf ihrem Sitz zurücksinken. Schon komisch, dachte sie, wie sehr die Firma alles dominiert, was mit der Familie Dolan zu tun hat. Sie war das Wichtigste in ihrer aller Leben. Trotz ihres Desinteresses für das Alltagsgeschäft war Veronica noch immer bei den alljährlichen Weihnachtsfeiern präsent. Gespräche über die Firma waren stets Teil des Familienlebens gewesen, auch wenn Romy davon ausgeschlossen gewesen war, ebenso wie Dermot. Sobald die Familie eine ihrer Firmenkonferenzen angekündigt hatte, waren Vater und Tochter immer zusammen spazieren gegangen.
Romy hatte sich dabei jedes Mal an einen von Agatha Christies Krimis erinnert gefühlt, die sie als junges Mädchen verschlungen und sich aus Toms Büchersammlung im Wohnzimmer entliehen hatte. Sie stellte sich vor, wie in einem Familienbetrieb alle Mitglieder eines nach dem anderen kaltgemacht wurden, weil ein anderer an deren Geld heranwollte. Natürlich wusste sie, dass dies nur eine boshafte Fantasievorstellung war, aber sie genoss sie gleichwohl. Und sie hätte viel Geld darauf gewettet, dass Veronica als Erste hätte dran glauben müssen. Der Inhaber ihrer Anteile hätte damit die absolute Kontrolle über die Firma besessen und tun und lassen können, was er wollte. Romy musste bei der Erinnerung daran schmunzeln. Das war ein unwahrscheinliches – nein, ein unmögliches – Szenario für die Dolans. Darragh war Veronica treu ergeben, und auch wenn Romys Wissen nach Kathryn und ihre Mutter einen heftigen Streit wegen Darraghs Ernennung zum geschäftsführenden Direktor gehabt hatten, erschien ihr die Vorstellung, dass jemand Veronica mit einem Hammer auf den Kopf schlagen könnte, um an ihre Anteile zu gelangen, doch reichlich weit hergeholt. Außerdem residierten sie nicht in dem
obligatorischen alten Herrenhaus der Christie-Krimis, bedauerte Romy, als sie schließlich die Autobahn verließen und in Richtung des alten Dorfs Rathfarnham fuhren, in dem die Familie wohnte. Das Haus war groß und stammte aus den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Veronica hatte es komplett modernisieren lassen und richtete es außerdem alle paar Jahre vollkommen neu ein, um mit den neuesten Trends in der Wohnkultur Schritt zu halten. Deshalb war es als Schauplatz einer mysteriösen Mordgeschichte nur schlecht geeignet.
»Macht es dir was aus, wenn ich dich am Tor herauslasse?«, fragte Giselle, als der Wagen zum Stehen kam. »Wenn ich mit reinkomme, dann weiß ich jetzt schon, dass ich mich zu lange aufhalte, und Mimi muss in einer Stunde in den Ballettunterricht.«
»Ballett?« Romy schaute überrascht. »Ist sie dafür nicht noch ein bisschen jung?«
»Man ist nie zu jung, um eine gute Haltung zu erlernen«, erwiderte Giselle. »Und sie geht doch so gern zu den Little Belles, nicht wahr, Schatz?« Lächelnd drehte sie sich zu ihrer Tochter um.
»Ich habe ein Kleid«, erzählte Mimi.
»Sie haben alle rosafarbene Tutus«, erklärte Giselle. »So was von niedlich.«
»Aha.« Romy stieg aus dem Geländewagen und stellte ihren Rucksack auf den Boden. »Also, bis bald, Giselle. Richte Darragh einen Gruß von mir aus.«
»Gern, und wir würden uns freuen, wenn du nächste Woche an einem Abend mal zum Essen zu uns kommst«, erwiderte ihre Schwägerin. »Darragh will mit dir über Veronica sprechen. Er macht sich wirklich Sorgen um ihren Zustand.«
»Äh, okay.«
»Melde dich einfach.« Und damit verschwand Giselle die Straße hinunter.
Romy stand vor dem Tor mit den beiden Eisenflügeln und betrachtete das frei stehende Haus mit den Erkerfenstern zu beiden
Seiten der Eingangstür und der kurzen, kiesbedeckten Auffahrt davor. Es war in untadeligem Zustand. Glänzender Efeu rankte sich bis auf halbe Höhe die grauen Ziegelmauern empor. Das Ende der Auffahrt bot Platz für vier Fahrzeuge, doch momentan war dort nur ein Wagen geparkt, ein neu zugelassenes VW-Golf-Kabriolett in Silbermetallic. Veronica liebte Sportwagen und kaufte sie stets in Silber. Das Tor verfügte über einen elektrischen Türöffner, aber Romy hatte keine Fernbedienung. Sie
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