Und ewig seid ihr mein
ihn besuchen komme.
Ihr Besuch und ihre Worte waren ihm mittlerweile egal geworden. Er wusste, dass er zu ihrer und zur Bequemlichkeit seines Vaters in diesem Heim geparkt wurde. Sie hatten hundert Mal mit ihm darüber gesprochen, wie wichtig es war, dass ein Kind in geordneten und stabilen Lebensumständen aufwuchs. Die Arbeit des Vaters und die zahlreichen Verpflichtungen der Mutter taugten dafür nicht. Auch wenn er sie angefleht hatte, ihn nicht in diesem Gefängnis zurückzulassen. Er würde alles tun, um ihnen nicht im Weg zu sein, stets zu gehorchen, doppelt so viel zu lernen und die neue Kinderfrau zu mögen.
Als er sie durch das Fenster im dritten Stock davonfahren sah, wünschte er sich, dass sie sterben sollte. Sie würde ihn nicht mehr besuchen kommen, da war er sich sicher. Mit den Jahren war er apathisch geworden und erwartete nichts mehr im Leben. Er hatte kein Zuhause mehr und würde nie eins haben.
Levy erhob sich schwerfällig aus dem Bett, schlurfte zum Kühlschrank. Er gab nicht viel her. Eine Dose eisgekühlter Kaffee mit Guarana sollte genügen. Das Gemisch brannte wie Feuer in seiner Kehle. Er fragte sich, wie langeer das Zeugs noch trinken konnte, ohne dass es ihm ein Loch in den Magen brannte.
Der Computer dämmerte ruhig im Standby. Levy rief ihn wach und überprüfte seine Mailboxen auf neue Nachrichten. Sein Nachrichtenagent hatte ihm eine Liste von Artikeln zusammengestellt, die er lesen sollte. Meistens handelte es sich um Erfahrungsberichte anderer Kriminalpsychologen und forensischer Psychiater, die vom Fortgang ihrer Fälle berichteten. Er würde bald wieder etwas zum gemeinsamen Austausch ins Netz stellen müssen, sagte er sich. Seit seinem letzten Bericht über die Gefühlswelten sadistischer Serienmörder vor einem Jahr hatte er nichts mehr zur gegenseitigen Fortbildung beigetragen.
Dabei waren er und seine Kollegen so sehr auf diese Informationen angewiesen, da es die Justiz in Amerika, wo die meisten Serientäter auftraten, noch immer nicht geschafft hatte, sie vor dem elektrischen Stuhl zu bewahren. Mehr als in jeder anderen Wissenschaft waren sie auf jeden auskunftsbereiten Serienmörder angewiesen, um mehr über die Ursachen und Hintergründe ihrer Taten zu erfahren. Stattdessen spritzten, hängten und gasten die Amerikaner sie zu Tode. Mit ihnen starb nicht nur der Mensch, sondern auch ein wertvoller Proband zur Erforschung der Ursachen.
Hätte man im Bereich der Pharmakologie genauso gehandelt, würden die Mediziner noch immer mit Trommel und Salbeirauch die Kranken therapieren.
Sein Diskussionsbeitrag musste warten. Nicht nur, weil er mit seiner Forschungsarbeit noch nicht am Ende war, seit gestern befand er sich in einem neuen Fall, der sich von den ihm bekannten unterschied. Hier ging es nicht um eine missbrauchte Frau, die mehr oder weniger schwer verstümmelt am Straßenrand aufgefunden worden war, hier ging es um ein Rätsel ganz besonderer Art.
Wie Speisereste über Bord geworfen.
Die Bemerkung Alexejs hatte ihn tief getroffen. Wieso eigentlich, fragte er sich. Es war eine lapidare Bemerkung.
Er überlegte, welche Worte in diesem Satz ihn am meisten berührten. Waren es die
Reste
oder der Vorgang, sich ihrer zu entledigen, sie
über Bord
zu werfen?
Sosehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht entscheiden. Verstandesgemäß. Sein Gefühl hingegen entschied sich für das
Über-Bord-werfen
, in voller Fahrt zurückgelassen,
entsorgt
werden.
Nun, das war sein ureigenstes Problem. Es musste nichts mit den Überlegungen des Täters zu tun haben. Das wusste er. Doch hatte er auch im Zuge seines Studiums gelernt, dass die Antwort auf jedwede Frage zu jeder Zeit, an jedem Ort wartete. Man musste nur den Code lesen können.
Die grundlegenden Entwicklungen der Menschen unterschieden sich nicht grundsätzlich voneinander. In den frühen Kindesjahren waren sie nahezu deckungsgleich. Jeder strebte nach der Liebe der Eltern, fühlte sich dann zum gegengeschlechtlichen Elternteil hingezogen, kämpfte anschließend mit dem gleichgeschlechtlichen um die Vormachtstellung in der familiären Konkurrenzsituation, um sich später mit aller Gewalt aus deren Bevormundung zu befreien. Konnte ein Kind in diesem Prozess die jeweils nächste Entwicklungsstufe nicht erreichen, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich ein Problem daraus entwickelte.
Dennoch, der Weg von einem unbewältigten Trauma hin zu einer ausgewachsenen Psychose war weit. Da musste noch einiges passieren,
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