Und Freunde werden wir doch
über alles geredet, aber hier geht es plötzlich nicht. Sandra vergräbt sich in ihren Büchern und lernt Spanisch. Cuento - cuentas - cuenta - contamos - contáis - cuentan.
Das Konjugieren von Verben ist ein Mittel gegen unerwünschte Gedanken, eine Hilfe gegen Kopfweh, Bauchweh und Liebesweh. Sandra macht auch vor komplizierten Zukunftsformen nicht halt, ganz im Gegenteil, die sind besonders geeignet, sich vor anderen Einfällen zu schützen: viviré - vivirás - vivirá - viviremos - viviréis - vivirán.
»Viviré - ich werde leben.« Sandra holt Mucki aus dem Stall und drückt ihn fest an sich.
13
Frau Müllers Stimme ist laut: »Ich werde euch nicht fragen, warum ihr uns verfolgt habt«, sagt sie erregt. »Für solche albernen Kinderstreiche seid ihr mir aber schon zu groß!«
Sie stehen an der Kreuzung, mitten im dichten Verkehrsgewühl, Frau Müller, Herr Ramirez, Sandra und Hanna. Herr Ramirez lächelt gequält. Die Freundinnen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, fühlen sich beide gleichermaßen schlecht, nicht nur blamiert, sondern aufs äußerste beschämt. War es nicht doch einfach nur ein harmloser Kinderstreich gewesen, zu beobachten, was die beiden zusammen machen? Sandra ist ehrlich zu sich selbst: Sie wollte den Lebenswandel von diesem Mann kontrollieren, der - da hat sie sich nicht getäuscht - Ronnis Vater ist. Sie wollte urteilen über jemanden, den sie gar nicht kennt.
Bei der Bibliothek hatten sie ihnen aufgelauert und waren ihnen gefolgt, bis Frau Müller und Herr Ramirez in der Spaten-Kneipe verschwanden. Da hatten sie unschlüssig vor der Tür gestanden und überlegt, ob sie auch hineingehen oder lieber draußen irgendwo versteckt warten sollten. Womit sie nicht gerechnet hatten, war, daß Frau Müller und Herr Ramirez schon nach einem schnellen Bier an der Theke wieder die Kneipe verlassen würden. Frau Müller durchschaute die Situation sofort. Und da stehen sie nun einander gegenüber: die beiden Mädchen den Bespitzelten. »Offenbar brauche ich euch Herrn Ramirez nicht mehr vorzustellen ...«, Frau Müller hüstelt.
Hanna versucht zu erklären: »Ja, ich war schon bei ihm zu Hause und daher...«
»Ist schon gut«, fährt Frau Müller fort.« Ich fordere euch auf, uns nun ganz unverhohlen zu folgen. Wir gehen nämlich jetzt zu mir.«
Mit hoch erhobenem Haupt schreitet Frau Müller aus, Herr Ramirez bemüht sich, mit ihrem Tempo mitzuhalten, während Sandra und Hanna ihnen als zwei beschämte Schatten folgen. Keine von ihnen wagt, etwas zu sagen, nur beredte Blicke tauschen sie aus.
Frau Müller bleibt vor einer alten Haustür stehen und beginnt, in ihrer grünen Ledertasche herumzukramen. Sie sucht den Hausschlüssel. Ganz zuunterst findet sie ihn schließlich und seufzt: »Immer das gleiche!«
Die Wohnung liegt im ersten Stock. Sie ist mit viel Liebe und Geschmack eingerichtet. Bilder hängen an den Wänden, und in der Vitrine hat sie schönes Porzellan stehen. So hatte Sandra sich Frau Müllers Wohnung nicht vorgestellt, so elegant und gleichzeitig behaglich.
Während Sandra und Hanna das Gefühl haben, dauernd irgendwie im Weg zu stehen, geht Frau Müller geschäftig zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her. Sie bereitet Tee zu. Herr Ramirez nimmt indessen am Wohnzimmertisch Platz und zieht ein Buch von Simenon aus seiner Mappe. Offenbar bereitet ihm dieses Buch großes Vergnügen. Er lacht Frau Müller zu und sagt ihr, daß er heute für seine Schülerin etwas Besonderes dabei habe, die spanische Version eines französischen Kriminalromans: »George Simenon en Espagnol!«
Frau Müller und Herr Ramirez scheinen sich bestens zu verstehen. Sie sprechen Spanisch, sie gehen wie alte Freunde miteinander um und kümmern sich fürs erste wenig um Hanna und Sandra. Die sind da, nun gut, aber Herr Ramirez und Frau Müller lassen sich kaum durch ihre Anwesenheit beeinflussen. Das täuscht jedoch. Denn als Frau Müller Tee und Tassen und alles, was dazugehört, im Wohnzimmer hat, wendet sie sich an Hanna und Sandra und sagt ernst: »Nehmt mir meine Deutlichkeit bitte nicht übel. Ich weiß, daß ihr durchaus keine oberflächlichen jungen Mädchen seid. Aber ihr wißt vieles nicht. Was für euch ein kindisches Spiel war, ist andernorts grausame Wirklichkeit. Jetzt, in dieser Minute, leben in vielen Teilen der Welt Menschen, die spüren, daß sie beschattet werden. Menschen, die verzweifelt versuchen, ihren Verfolgern zu entkommen. Menschen, die nachts schreiend vor Angst
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