Und Freunde werden wir doch
genauer. Er ist offenbar in eine Schaufensterscheibe gefallen. Wie es dazu kam, ist unklar. Jedenfalls hat er sich tiefe Schnittwunden zugezogen. Die Pulsadern sind ja so ziemlich das Verletzlichste, was der Mensch hat... Da geht’s an den Lebensnerv!«
Der Arzt sieht Sandra durchdringend an. Ja, sie hat ihn verstanden. Es ist nur etwas viel, was da auf sie einstürzt. Darum ist Sandra dankbar, als Schwester Helga ihr einen Stuhl anbietet. Sie setzt sich schnell, denn ihr ist ganz flau:
Um sechs Uhr morgens klingelte das Telefon. Da schlief sie noch. Aber beharrlich läutete es weiter und weiter, bis Herr Körner schließlich abnahm. Ein »Dr. Melchior« meldete sich. Er sei von der Universitätsklinik, sagte er, und es wäre dringend. Sandra solle bitte so schnell wie möglich kommen, Goethestraße, zweiter Eingang, dritter Stock rechts, Zimmer dreihundertfünfundzwanzig. Sandras Vater verstand nur die Hälfte, aber er begriff, daß es einen Unfall gegeben hatte, wahrscheinlich ein Klassenkamerad, und daß Sandra schnell kommen solle. Sie zogen sich in aller Eile an, tranken im Stehen ein Glas kalte Milch, und der Vater nahm sie auf seinem Weg ins Büro im Auto mit. Ganz im Unterschied zu ihren sonstigen Gewohnheiten überhäufte Frau Körner Sandra nicht mit Fragen, sondern half, so daß Vater und Tochter schnell aus dem Haus kamen. Zwanzig Minuten nach dem Anruf setzte Herr Körner seine Tochter vor der Klinik ab.
Da ist sie nun und erzählt, was sie von Ronni weiß. Daß er aus Chile stammt, wo und wie er wohnt, daß er in der Schule nicht so richtig klarkommt und schwer zugänglich ist. Der Arzt macht einen ernsthaften Eindruck, und er behandelt Sandra durchaus als ebenbürtig. Sandra beantwortet die Fragen, so gut sie eben kann, und sie ist selbstverständlich bereit, alles zu machen, was nötig ist. Natürlich kann sie den Eltern Bescheid geben, ja. Nein, die haben kein Telefon, nein. Doch, die werden sich sicher schon furchtbare Sorgen machen.
Erst durch dieses Gespräch wird Sandra klar, daß offenbar noch keiner von Ronnis Unfall weiß, daß sie als eine Art Vertrauensperson hier sitzt.
»Und wie sind Sie gerade auf mich gekommen?« Sandra sieht erst den Arzt, dann die Schwestern mit großen Augen an.
Dr. Melchior lacht: »Das war Schwerstarbeit. Wir haben ihn immer wieder nach Namen und Adresse gefragt, aber Ronni hatte hohes Fieber, phantasierte nur. Dann haben wir bei der Polizei nachgefragt, ob ein Junge gesucht wird. Nichts. Offenbar wurde er nirgendwo als vermißt gemeldet. Am Unfallort schien ihn auch niemand zu kennen.
Während der ganzen Nacht saß immer einer von uns an seinem Bett. Aber wir haben seinen Namen nicht herausbekommen. Schließlich, gegen Morgen, sagte er plötzlich >Sandra Körner<. Er sagte es zweimal nacheinander: >Sandra Körner<. Und da haben wir dich über die Polizei ausfindig machen lassen.«
Der Arzt muß weiter, zu anderen Patienten. Doch bevor er geht, dankt er Sandra: »Gut, daß du da bist, du hast uns schon viel geholfen. Und sicher ist es für die Eltern angenehmer, wenn du ihnen mitteilst, was geschehen ist, als wenn ein Polizist das macht.«
Das findet Sandra auch. Sie verabschiedet sich und geht. Die langen, weißgetünchten Krankenhausflure wollen, so scheint es ihr, kein Ende nehmen. Überall der Geruch von Desinfektionsmitteln. Sandra ist froh, als sie an die frische Luft kommt.
15
Sandra hockt auf der Treppe. Sie sitzt im dritten Stock vor der Tür mit dem kleinen Zettelchen, auf dem Ramirez steht. Den Kopf hat sie in die Hände gestützt. Als sie das erstemal mit klopfendem Herzen hier war, hoffte sie, Ronni zu treffen, aber er war nicht da. Jetzt ist sie wieder hier, und sie weiß, wo Ronni ist, sonst niemand. Sie fühlt sich elend und glücklich zugleich. Sie hat Angst um Ronni.
Es ist halb elf. Seit mehr als einer Stunde wartet sie nun schon. Sie hat geklopft und gerufen. Keiner hat sich gerührt. Niemand ist zu Hause. Langsam wird Sandra unsicher, was sie tun soll. Jetzt noch in die Schule zu gehen, dafür ist es schon zu spät. Und sie muß doch Ronnis Eltern Bescheid geben. Aber wenn da ewig niemand kommt?
Doch, es kommt jemand. Sandra hört die Schritte und ein schweres Schnaufen schon von unten herauf, lange bevor sie etwas sehen kann. Sie steht auf. Ihr ist schon wieder schwindlig. Sie lehnt sich über das Treppengeländer, und da sieht sie Marie. Fast hätte sie sie nicht erkannt. Wie eine alte Frau schleppt sich Marie die Stufen hoch,
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