Und Freunde werden wir doch
sie stöhnt, und zwischendurch schluchzt sie. In der Hand hält sie ein großes zerknülltes Taschentuch. Augen und Nase sind rot aufgequollen, überall Flecken. Wahrscheinlich hat sie schon seit Stunden geweint.
Als sie Sandra bemerkt, bleibt Marie stehen und schaut das Mädchen überrascht an. Sandra will sie so schnell wie möglich beruhigen, und so sagt sie erst gar nicht guten Tag, sondern ruft ihr zu: »Ronni geht es gut!« Und auf Maries fragenden Blick fährt sie fort: »Er ist nur im Krankenhaus. Er hat sich geschnitten, aus Versehen.«
Langsam entfaltet sich ein zaghaftes Lächeln auf Maries verheultem Gesicht. Sie bittet Sandra: »Sag noch mal, ganz despacio.«
Sandra bemüht sich, zuversichtlich zu wirken, und sie wiederholt langsam und laut: »Ronni ist im Krankenhaus. Er hat sich geschnitten, an einer Scheibe. Aber es ist nicht schlimm!«
Marie starrt Sandra an, als wäre sie eine Erscheinung des Himmels. Sie umarmt das Mädchen und beginnt hemmungslos zu weinen. Sie schluchzt und heult, und Sandra weiß, daß es jetzt Tränen der Erleichterung sind.
Sie setzen sich an den Küchentisch. Sandra erklärt noch einmal und jetzt ausführlicher, was sie weiß. Allerdings verschweigt sie, wie schlimm Ronni aussah und was der Arzt ihr über seinen Zustand in der vergangenen Nacht gesagt hat.
Marie versteht noch schlechter als sonst Deutsch. Sie fragt mehrfach nach, sie bringt auch keinen vollständigen Satz heraus. Nur als Sandra meint, sie hätten doch zur Polizei gehen können, da kommt ein klares »No« aus ihrem Mund: »No, niemals mehr Polizei!«
Sandra erinnert sich, was sie über die Lage in Chile gehört hat, und sie begreift, daß Marie die Angst vor der Polizei nie verlieren wird.
Marie bemüht sich, Sandra zu erklären, daß Salvador und Patricio noch unterwegs sind: »Salvador und Patricio schauen, wo Ronni.«
In U-Bahnhöfen, Spielsalons, in der ganzen Stadt haben sie ihn wohl gesucht und nicht gefunden. Was soll Marie nun tun? Sie überlegt laut: »Qué puedo hacer? - Was ich machen?« Aber sie kann erst einmal nur abwarten.
Sie kocht für Sandra und für sich Kaffee. Zwischendurch rennt sie plötzlich aus der Küche: mit einer Zahnbürste und einem Schlafanzug kommt sie zurück, und Sandra sieht ihr an, daß der Kummer wieder die Überhand gewinnt - Ronni im Krankenhaus, das war er noch nie.
Marie nimmt sich zusammen. Sie will sich vor Sandra nicht so gehenlassen. Sie muß versuchen, klar zu denken. Der Kaffee tut gut. Aber sie schafft es nicht, sitzen zu bleiben. Sie holt Süßigkeiten aus dem Küchenschrank und legt sie auf den Schlafanzug. Auch ein Apfel kommt dazu und eine abgewetzte kleine Kuschelmaus.
Sandra schreibt in großen Druckbuchstaben die Adresse des Krankenhauses und die Zimmernummer auf einen Zettel. Daneben malt sie den Weg zur Goethestraße. Und dann verabschiedet sie sich von Marie: »Ich muß gehen, sonst macht sich meine Mutter noch Sorgen!«
»Ja, naturalmente!« Marie springt auf.
Sandra legt den Zettel zu Ronnis Sachen: »Hier habe ich alles aufgeschrieben. Auch meine Telefonnummer. Falls irgendwas ist.« Sie stockt, dann fährt sie fort: »Ronni ist ein bißchen blaß. Er hat Blut verloren. Aber es geht ihm schon wieder besser!«
Marie nickt, und während sie Sandra zur Tür bringt, wiederholt sie immer wieder: »Gracias, Sandra, danke, danke.«
Auf dem Nachhauseweg macht Sandra einen kleinen Umweg. Er führt sie bei »Radio Rahm« vorbei. Dort -so hat der Arzt gesagt - sei das Unglück geschehen. Als Sandra um die Ecke biegt, hat sie es vor sich: Das Schaufenster ist mit Pappe und Brettern abgedeckt. Sandra starrt auf die Pappe. »Komisch«, murmelt sie vor sich hin, »wie das passieren konnte!« Kopfschüttelnd sieht sie sich alles genau an, den Rahmen des Fensters, das alte Hausgemäuer, und plötzlich erschrickt sie: Auf dem Gehweg, direkt vor ihren Füßen, sind mehrere große dunkelrote Flecken, eindeutig Blut.
Aufgeregt kommt Sandra zu Hause an. Ihrer Mutter kann und wird sie alles so erzählen, wie es wirklich war. Sie hat da kein schlechtes Gefühl. Doch in der Wohnung findet sie nicht die Mutter, sondern ein Zettelchen vor: »Bin beim Friseur, mach dir die Suppe warm.«
Sandra hebt den Deckel des Kochtopfs hoch und stellt beim Anblick der kalten Suppe fest, daß sie jetzt keinen Appetit hat. Sie schreibt auf das Zettelchen »Bin bei Hanna!«, und schon ist sie wieder draußen.
Hanna ist noch nicht von der Schule zurück. Aber Frau Voss ist
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