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Und fuehre uns in die Versuchung

Und fuehre uns in die Versuchung

Titel: Und fuehre uns in die Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria G. Noel , Runa Winacht
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ganz kurzer Zeit noch hatte sie ihn mit ihren Fragen und Problemen bestürmt. Und das, obwohl sie deutlich gemerkt hatte, dass sie ihm damit Unannehmlichkeiten bereitete. Erst als er so schnell gegangen war, hatte sie notgedrungen Ruhe geben müssen. Also war sie es, die ihm zu viel geworden war. Weil sie zu viel gefragt, ihn bedrängt hatte.
    Und jetzt war er krank.
    War sie etwa daran schuld? Sie zog ihre Augenbrauen zusammen. Oder war es vielleicht umgekehrt, hatte er sie so schlecht aushalten können, weil er bereits die Krankheit in sich gespürt hatte?
    Jäh hob sie den Kopf und fixierte Pater Heussgen: „Kommt er wieder?“
    Sie wusste, sie klang viel zu besorgt, aber wenn Pater Arno ernsthaft krank war, was wäre dann mit dem Unterricht? Würde der ausfallen? Und wenn ja, wie lange?
    „Morgen wird er wieder hier sein“, erreichte sie da schon Pater Heussgens Stimme. „Da bin ich sicher.“
    Mathilda wollte beruhigt nicken, zeigen, dass alles in Ordnung war. Aber sie konnte nicht. Eine noch vage Angst hatte sie ergriffen. Mit vor Anstrengung gerunzelter Stirn, um den Grund dafür zu fassen, sah sie zu Boden.
    „Er hat über Kopfschmerzen geklagt, das kann schon mal vorkommen.“
    Wieder Heussgen, aber diesmal mit einer alarmierenden Botschaft. Ihr Kopf ruckte zu ihm hoch.
    Kopfschmerzen? Vater, bei dem war es auch so losgegangen. Unwohlsein, Mattigkeit, Schwindel und Kopfschmerzen. Und dann war er immer kränker geworden. Ohne es beeinflussen zu können, begann Mathilda zu zittern. Was, wenn Pater Arno ebenfalls ...?
    Ach was! Ihre Hand machte eine abwehrende Bewegung. Pater Arno und ihren Vater konnte man nicht miteinander vergleichen. Pater Arno war viel jünger – und hatte bisher stets einen sehr vitalen Eindruck gemacht. Dennoch, sie musste es genauer wissen.
    „Seid Ihr sicher?“, fragte sie – und schämte sich für die Hektik in ihrer Stimme.
    „Ganz sicher. Morgen wird er wieder hier sein“, nickte Pater Heussgen auch sofort. „Darauf gebe ich Euch mein Ehrenwort.“
    Mathilda lächelte bemüht, atmete und versuchte, der Angst, die sie dennoch erfasst hatte, Herr zu werden. Es gab keinen Anlass zu zittern, gar keinen. Also sollte sie es bleiben lassen.
    „Lasset uns nun beten“, sagte Pater Heussgen und kniete sich nieder. Er nickte Hartwig zu.
    „Bruder Hartwig hat heute den Psalm zweiundzwanzig übersetzt. Lauschen wir ihm also.“
    Hartwig, der sich neben Heussgen gekniet hatte, wartete noch einen Moment, ehe er mit leiser Stimme begann: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist du meinen Schreien so fern und den Worten meiner Klage?
    Mein Gott, ich rufe am Tag, doch es kommt keine Antwort.
    Ich rufe bei Nacht und finde keine Ruhe.“
    Mathilda wusste, es ging immer um den Tod, wenn Nona gebetet wurde. Die neunte Stunde des Tages war der Erinnerung an die Verstorbenen gewidmet und der Vergegenwärtigung der eigenen Sterblichkeit. Dieser klagevolle Psalm erzählte vom Verlassenwerden und vom Sterben. Ihn in ihrer Muttersprache zu hören, hatte allerdings eine völlig andere Wirkung als die dahin gesprochenen lateinischen Worte, die sie nicht verstehen musste, wenn sie nicht wollte.
    Sebastian, warum hast du mich verlassen?, hörte sie in sich nachklingen und sofort stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie wusste, was diese Klage bedeutete. Und noch mehr, weil sie plötzlich ihren Vater vor sich sah, krank, elend. Auch er – Vater, warum hast du mich verlassen? Und jetzt Pater Arno. Das war zu viel, das war einfach zu viel! Das war – unerträglich! Sie holte tief Luft, um sich ein klein wenig zu sammeln. Sebastian – dem würde es wohl gut gehen. Aber ihrem Vater? War er wieder gesund oder war er ...? Sie musste unbedingt Nachricht von ihm haben!  
    Plötzlich hatte sie sein Gesicht vor sich, von der Anstrengung verzerrt, sie zum Abschied zu umarmen. Sie konnte seine Worte hören, mit denen er sie beruhigt und weggeschickt hatte: „Nun geh, mein Liebes. Mir geht es gut und ich werde sicher bald wieder auf den Beinen sein.“
    Aber sie erinnerte sich auch überdeutlich daran, wie zittrig und schwach nicht nur seine Stimme gewesen war, sondern jede seiner Bewegungen.
    Dann sah sie Pater Arno vor sich. Groß, kräftig und gesund. Er war sicher nicht krank. Jedenfalls nicht – so.
    Aber wenn doch?
    Dann war alles aus! Alles. Ohne Pater Arno würde sie es nicht aushalten. Ohne ihn würde sie hier nicht sein wollen. Und können.
    Ohne Möglichkeit, es zu verhindern,

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