Und Gott sprach: Wir müssen reden! (German Edition)
Hände.
Wir stehen im verschneiten Garten eines Einfamilienhauses. Es ist nun helllichter Tag. Ich schaue mich um. Offenbar eine gehobene Neubausiedlung. Auch die üppigen Nachbargrundstücke sind mit freistehenden Einfamilienhäusern bebaut. Ich wette, unter der dichten Schneedecke verbergen sich mustergültige Gartenanlagen, die im Sommer als Kulisse für mustergültige Barbecues dienen.
«Und hier wohnt Jonas?»
Abel deutet mit einer Kopfbewegung zum Haus. Hinter einer großen Fensterfront ist vage eine fünfköpfige Familie beim Weihnachtsfrühstück zu erkennen.
«Ist das etwa …?»
«… Jonas mit seiner Familie», vollendet Abel den Satz. «Er und seine Frau Jana haben drei Kinder: Melinda, Maja und Mimi. Fünfzehn, dreizehn und neun Jahre alt. Und alle drei sind Pferdenärrinnen, stell dir das mal vor! Melinda hat gerade ein paar Probleme. Die Pubertät macht ihr …»
«Mann, Abel!», unterbreche ich verärgert. «Ist dir eigentlich klar, dass das alles hier für mich etwas frustrierend ist? Würde es mich nicht geben, wäre mein Vater noch am Leben, und mein Bruder hätte eine weiße Weste, eine nette Familie und ein hübsches Haus am Stadtrand. Was kommt als Nächstes? Wären der Menschheit vielleicht auch noch einige Seuchen und Kriege erspart geblieben, wenn ich nie das Licht der Welt erblickt hätte?»
«Du überschätzt dich», erwidert Abel locker. «Und wie gesagt: Es kommen immer mehrere Gründe zusammen. Dass dein Bruder in diesem Leben nie um die Anerkennung deiner Mutter kämpfen musste, liegt nicht allein daran, dass es dich nicht gab. Obendrein fehlte ja auch noch sein Vater.»
«Der eine andere Frau geheiratet hat, weil ich nicht geboren wurde. Letztlich bin ich also doch verantwortlich.»
«Das ist absurd», sagt Abel. «Es gibt dich in dieser Welt überhaupt nicht. Wie willst du dann für irgendetwas verantwortlich sein?»
«Es gibt mich aber in der realen Welt», gebe ich zurück. «Und da ich jetzt weiß, wie die ohne mich aussähe, finde ich mich mittlerweise auf eine eher unangenehme Weise … verschmerzbar.»
«Nur, damit das klar ist», sagt Abel und droht mir mit dem Zeigefinger. «Du ganz allein wolltest wissen, wie die Welt ohne dich aussähe. Wenn du jetzt ein Problem damit hast, dann beklag dich nicht bei mir.»
«Schon okay», winke ich ab. «Jedenfalls ist Jonas also hier ein ebenso ehrlicher wie erfolgreicher Manager. Na toll!»
«Dein Bruder ist ein langweiliger Bankfilialleiter, der seine Energie nicht in kriminelle Aktivitäten, sondern in Grillabende investiert. Und das ist auch schon die ganze Geschichte», sagt Abel.
«Und du behauptest, Jonas hat im richtigen Leben Geld unterschlagen, um Mutter seine Zuneigung zu beweisen?», rekapituliere ich grüblerisch.
«Nein. Aber wie du siehst, wäre er unter anderen Umständen nicht kriminell geworden, sondern ein braver Familienvater.»
Ich schaue neugierig zum Haus.
«Können wir mal näher ran an die Vorzeigefamilie Jakobi?», frage ich.
«Fliedermann-Jakobi», korrigiert Abel. «Sie ist eine geborene Fliedermann.»
Im nächsten Moment stehen wir in der Küche der Fliedermann-Jakobis. Nebenan sind Stimmen zu hören, was genau gesagt wird, kann man aber nicht verstehen.
«Was soll das?», frage ich erstaunt.
«Dass wir hier in der Küche sind? Ich dachte, es wäre besser für dich, wenn wir uns der Sache langsam nähern.»
«Das meine ich nicht», erwidere ich. «Du hast gerade im Garten nicht in die Hände geklatscht, um uns hierhinzubringen.»
«Ach das», sagt Abel. «Das Klatschen ist nur so eine Angewohnheit. Ich muss das nicht machen. Ich könnte zum Beispiel auch mit den Fingern schnippen.»
Er tut es, und im gleichen Moment stehen wir auf dem nächtlichen Times Square in New York inmitten einer Menschentraube.
«Pass auf!», sagt Abel und schnippt erneut mit den Fingern. Schlagartig wird es hell, und wir befinden uns an Bord eines Luxuskreuzfahrtschiffes, das gerade die Oper von Sydney passiert.
«Oder so!», ruft Abel begeistert und zieht an seinen linken Ohrläppchen. Diesmal landen wir auf dem weihnachtlich geschmückten Petersplatz in Rom, wo Tausende Gläubige auf das Erscheinen des Papstes warten.
«Oder ich nehm einfach die andere Seite», frohlockt Abel und zieht an seinem rechten Ohrläppchen. Nun stehen wir mit einer Gruppe Touristen am Rande der Cheops-Pyramide. Abel grinst zufrieden.
«Ich könnte auch …», beginnt er.
«Abel, bitte lass den Quatsch», unterbreche ich.
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