Und im Zweifel fuer dich selbst
sofort piepste es mehrmals hintereinander. Einfach wieder ausschalten, dachte ich. Einfach unerreichbar sein. MeinenEltern sprach ich auf den Anrufbeantworter, wo wir waren. Auch Friedrichs Nummer stand in der Liste der Anrufer, aber ohne seinen Namen. Ich ließ mein Telefon die Nummer wählen und wollte nach viermal Klingeln schon auflegen, als er sich dann doch meldete. »Hallo?«, fragte er, als habe er jemand anderen erwartet. Ich erzählte ihm, wo wir waren, und nach ein paar Sätzen kamen die Worte ganz leicht, ich musste nicht mehr lange nachdenken und erzählte vom Meer und vom Supermarkt und vom nächtlichen Strand. Ich redete ohne Pause, ich hörte ihn nicht atmen zwischendurch, ich hörte mich nicht einmal selbst atmen. Ich erzählte von der Beerdigung und dem Leuchtturm, und als es mir auch entfuhr, dass ich seine Nummer gelöscht hatte, erschrak ich vor mir selbst, das war das Ende der Rede, die Worte waren damit weggeredet. Der Keramikfaden war wieder da. »Also dann«, sagte er nach einer Ewigkeit des Knackens und Rauschens in der Leitung. »Also dann«, wiederholte ich. »Tschüss.« – »Tschüss.«
Als ich an den Strand kam, sah ich Lene bis zur Hüfte im Wasser stehen. Ihre Wirbelsäule trat deutlich hervor, ich konnte sie durch das weiße, enge T-Shirt sehen. Sie stand einfach nur da und blickte zum Horizont, ihre Hände verschwanden im Wasser. Jetzt am Abend ging kein Wind mehr, nur wenig flache Wellen fraßen sich in den Sand. Lene machte keine Anstalten, aus dem Wasser zu kommen, ich konnte auch nicht erkennen, ob sie noch eine Hose trug. Ein Hund schwamm weiter hinten einem Stock hinterher. Ich war noch nicht bei Vince angekommen, da stand er auf und ging zu Lene. Ohne sich die Hosen auszuziehen, wateteer zu ihr ins Wasser. Ob sie sich wirklich an den Händen hielten, konnte man nicht sehen, dennoch liefen die Linien ihrer Arme bis zur Wasseroberfläche aufeinander zu. Ich wusste, dass niemand in der Welt in diesen Tagen einsamer war als Lene, dennoch war seltsam, am Rande der Dünen zu stehen ohne jemanden an meiner Seite. Ich ging zurück zum Wohnwagen, holte Handtücher aus dem Schrank, stapfte zurück zum Strand und wartete neben zwei paar Schuhen, bis die beiden sich umdrehten und tropfend bei mir ankamen. Sie lächelten und pellten sich die nassen Sachen von den Körpern. Lenes Lippen waren blau, Vince klapperte mit den Zähnen. »Da bist du ja«, sagte Lene, als sei ich ewig weg gewesen.
16
Wir entschieden uns dafür, am nächsten Abend zu fahren, um im Dunkeln anzukommen. Vince hatte das vorgeschlagen, und Lene hatte genickt, und ich hatte gar nichts gesagt. Ich war froh, nach Hause zu kommen, gewaschene Klamotten anzuziehen, in meinem eigenen Bett zu schlafen und auf dem Fensterbrett sitzend Tee zu trinken. Ich würde ein Bad nehmen, die Pflanzen gießen, vielleicht den Keller aufräumen. Aber ich fragte mich, was wohl mit Lene geschehen würde, ob sie große Angst hatte oder vielleicht auch ein bisschen erleichtert war, mit welchem Gefühl sie wohl ihreHaustür unten aufschieben und danach an den Briefkästen vorbeigehen würde. Wie viele Schritte sie nehmen musste, um im dritten Stock anzukommen, wie viel Kraft sie dazu brauchte, und ob es eigentlich eine Heimkehr für sie war, ob sie noch etwas wiedererkannte. Heimkommen ist, wenn man sich im Spiegel anschaut, feststellt, dass man ein paar Falten unter den Augen und Farbe bekommen hat, sich durch die Haare fährt und beim Verlassen des Badezimmers die Tür offen lässt, durch alle Zimmer geht, um mal so zu gucken. Wenn man zuhause bleibt, obwohl man nichts mehr zu Essen im Haus hat und die Geschäfte sogar noch geöffnet wären, nur um nicht noch einmal auf die Straße zu müssen. Heimkommen ist, wenn man nicht sofort Musik anmacht, sondern noch ein paar Minuten wartet, weil die ganze Zeit etwas war, und hier wieder nichts ist, und wenn man dann zur Seite mit dem Kopf auf ein Kissen fällt und einfach liegenbleibt.
Wir saßen vor dem Wohnwagen. »Könnt ihr euch noch erinnern, wie wir auf die Insel geschwommen sind?«, fragte Lene in das Flackern des Kerzenlichtes hinein. Ich schaute sie an, Vince schien irgendwo anders mit den Gedanken zu sein, denn er starrte zu Boden. Lene saß in unserer Mitte, und im Profil überlagerten sich ihre Nasenspitzen. Ich wusste sofort, dass wir damals am Liebnitzsee ähnlich da gesessen hatten. Friedrich war nicht mitgekommen, dieses und andere Male. Also fuhren wir zu dritt abends noch einmal
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