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Und im Zweifel fuer dich selbst

Und im Zweifel fuer dich selbst

Titel: Und im Zweifel fuer dich selbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Rank
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Wasser zu. Ob sie etwas sagte oder nicht, konnten wir nicht erkennen. Aber wie sie nach ein paar Schritten stehen blieb, innehielt und dann weiter ging. Wie sie mit der einen Hand das Telefon und sich mit der anderen das zweite Ohr zuhielt, um den Ostseewind auszublenden. Wie sie sich dann manchmal durch die Haare fuhr und eine Bewegung machte, als wischte sie sich Staub von der Nase. Vince hatte seine Scheibe Brot in viele kleine Stücke gerissen und warf sie nun den Möwen hin. Nur drei Sekunden später waren wir von den weißen Vögeln umzingelt. Sie kreisten über uns, fingen die Krumen im Flug, als Lene das Telefon in ihre Hosentasche steckte, aber im knöchelhohen Wasser stehen blieb, ohnesich umzudrehen. Ihre rechte Hand lag so in ihrem Nacken, als würde sie sich an sich selbst festhalten. Als sie sich neben uns auf die Decke fallen ließ, schaute sie mir direkt in die Augen. »Das war Tims Vater«, sagte sie, dann sah sie zu Vince und dann wieder auf den Boden. Ihre Hand griff in den Sand und ließ ihn auf den Spann ihres Fußes rieseln. »Die Beerdigung ist in drei Tagen. Bis dahin sollten wir zurück sein.«

    Berlin schien momentan alles andere als ein Zuhause zu sein. Zurückzukommen bedeutete, dass wir Antworten parat haben mussten und Gesichtsausdrücke. Zurück hatte viel zu tun damit, dass man vor seinem Kleiderschrank stehen und sich überlegen müsste, ob man auf Tims Beerdigung ein Kleid tragen wollte, das man auch schon auf einer Party mit ihm getragen hatte. Berlin bedeutete nicht nur eine Handvoll Straßenzüge, nicht nur eine Handvoll Erinnerungen. In Berlin warteten Dinge auf Lene, an die eigentlich nicht zu denken war. Durch die Straßen fahren. In die eigene Wohnung gehen. Tims Tasse neben ihrem Bett finden. Berlin, das waren Haare auf dem Laken. Die Kreuzung, an der Tim gestorben war. Ich wagte nicht daran zu denken, welche stillen Denkmäler mittlerweile für Tim und Lene gesetzt worden waren, an wie vielen Ecken und Enden der Verlust wartete, um sie dann anzuspringen. Es war seltsam zu wissen, dass es schlimm und schwierig werden würde und dass niemand in der Welt diesen Schmerz verhindern konnte.Lene zog die Beine an ihren Körper und hinterließ sandige Spuren auf der Decke. »Sie haben einen Platz gefunden, auf dem Stralauer Friedhof. Ganz nah am Wasser, hat er gesagt.« Vince legte von hinten seine Arme um sie, und ich rührte mich nicht. Tims Eltern konnten nicht wissen, dass wir manchmal am anderen Ufer gesessen und auf die Halbinsel Stralau geschaut hatten, auf den Kirchturm und die Hecken, die großen Kastanien vorne an der Spitze der Landzunge, wo die nackten Rentner sich morgens früh um sieben in die Fluten der Spree warfen, wenn sie glaubten, dass niemand sie sah. Aber wir sahen sie, wenn wir nach dem Feiern noch der Sonne beim Aufgehen zusahen. Und ich fragte mich, ob wir dort jemals wieder sitzen würden, ob dies nun zu einem Ritual oder einer Unmöglichkeit werden würde. Ob Tims Eltern einen halben Bezirk aus Lenes Radius gestrichen hatten, oder ob es okay war. »Nah am Wasser ist gut«, sagte sie leise und starrte geradeaus, während neben uns ein Kind seinem dicken, im Sand eingegrabenen Vater einen Sandkuchen auf den hügeligen Bauch setzte. Die Möwen waren abgezogen.
    Von Tims Grab aus wird man im Winter das Riesenrad sehen können, das zwischen den Bäumen hervorschaut, als warte es darauf, dass sich die Pflanzen seiner annehmen. Als sei es nur ein Gerüst, eine Kletterhilfe für die, die irgendwann kommen und Besitz davon nehmen. Morgens, wenn wir dort saßen, konnte man den Senioren mit ihren Enkelkindern beim Entenfüttern zusehen und sich darüber ärgern, denn Enten soll man nicht füttern, das hatte man uns damals im Schulgarten beim Sachkundeunterrichtbeigebracht. Aber die alten Leute fütterten unermüdlich weiter und wir sagten nichts, kein Wort, drehten uns um und blätterten in der Zeitung mit dem Rücken zum Fluss und dem Gesicht zur Tischtennisplatte. Im Sommer schaukelten dickbäuchige Berliner in ihren Schlauchbooten über die Spree, juchzten bei jeder Welle, die die Dampfer verursachten, die Schirme ihrer Mützen tief ins Gesicht gezogen, die Sonnenbrillen wie eine Festung. Manchmal kippten sie um und rutschten in die braunblaue Brühe. Dann zählten wir in Gedanken all die Bierflaschen, die wir schon in den Fluss geworfen hatten, und die Spuckwettbewerbe von der Oberbaumbrücke. Wenn sie fielen, passten sie auf, dass ihre Sonnenbrillen nicht

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