Und immer wieder Liebe Roman
auf der Mole schon eine Pferdekutsche wartete. Die Gruppe dieser Verrückten des späten neunzehnten Jahrhunderts machte Halt in der Apothicairerie, einem Lokal, das an den Rand eines Felsabbruchs gebaut worden war. Ferdinand Huchet, der Bauherr, war vom Pferdehandel auf den Hotelsektor umgestiegen. Die Apothicairerie war nichts Besonderes. Die Fremdenzimmer waren schlicht eingerichtet und wurden vor allem von Künstlern bewohnt, die auf der Insel Ruhe und Inspiration suchten. Nach dem Essen setzte der kleine Trupp den Ausflug fort.
Und dann entdeckte sie auf der Pointe des Poulins eine verlassene Festungsanlage. Sie war schwarz und trist und ihre Bausubstanz von Regen und Salz angegriffen. Am Eingang hing ein Schild: »Festung zu verkaufen. Bitte wenden Sie sich an den Leuchtturmwärter.«
Zwischen den Felsen eingeklemmt und dem Blick verborgen, vom französischen Militär aufgegeben und der Kommunalverwaltung überlassen, hatte die verlassene Festungsanlage nichts Majestätisches. Das Licht fiel durch kleine vergitterte Öffnungen hinein. Ringsumher blickte man nur auf Heideland, das von Wind, Salz und Sonne verbrannt wirkte. An diesem trübsinnigen Ort schien kein Lebewesen länger bleiben zu wollen. Sie wollte. Die berühmteste und dickköpfigste Schauspielerin Frankreichs strotzte mit ihren fünfzig Jahren vor Leben. Sie war schön, und die Welt lag ihr zu Füßen. An jenem Nachmittag schlich sich Sarah Bernhardt durch eine Seitentür in das schattige Erdgeschoss, und als sie wenig später wieder hervortrat, erklärte sie ihren Freunden: »Das wird alles meins sein, alles, was ihr hier seht. Ich werde die Festung erwerben.«
Nachdem sie den Kaufvertrag über eine Summe von 3000 Francs unterschrieben hatte, nahm Sarah die Festung im nächsten
Sommer in Besitz. Innerhalb weniger Wochen wurde die unbekannte Anlage berühmt. Belle-Île, dieser »unzugängliche, unbewohnbare, unbequeme« Ort wurde das Sommerreich der Tragödin, die niemals allein sein konnte. Tyrannisch wie sie war, lud sie das Gefolge der Dichter, Dramatiker, Maler, Bauern und Fischer dorthin ein, außerdem Maurice, ihren vergötterten einzigen Sohn, und Lysiane, ihre über alles geliebte Nichte. Sommer für Sommer verwandelte sich der karge Winkel in ein Paradies des Müßiggangs. Man amüsierte sich mit Fischfang, der sadistischen Jagd auf Eidechsen, albernen Lesungen und Voraufführungen von Theaterstücken vor nur wenigen glücklichen Zuschauern. Sarahs Gäste, Sarahs Frohsinn, ihre Unvoreingenommenheit, ihre Liebe zum Unwetter wurden legendär. Und so verlor die Insel ihre Unschuld. Und ihre Einsamkeit.
»Schau mal, der Felsen da unten. Er sieht aus wie das Profil einer Löwin.«
»Du siehst immer Dinge, die nicht da sind.«
»Das ist das Privileg von uns Romantikerinnen, mein verehrter Architekt.«
»Sie restaurieren das Anwesen von Sarah Bernhardt, die Festung soll wieder in den ursprünglichen Zustand gebracht werden. Ein Salon, neun Schlafzimmer, eine Küche und zwei Badezimmer. Wusstest du, dass sie auch noch andere Häuser hat bauen lassen? Zwei sind noch erhalten, die beiden da unten.«
Ich erblicke zwei graue Klötze, die zwischen den Felsen eingeklemmt sind. Auf dem Dach ist jeweils eine Terrasse angelegt. Zum Obergeschoss führt eine Außentreppe hoch.
»Ziemlich hässlich, würde ich sagen.«
»Sarah Bernhardt hatte wahnsinnig viele Verehrer. Nach der Renovierung der Festung ließ sie für Clairin ein Atelier bauen
und für ihren Sohn und seine Familie eine eigene Villa. Dann entstand noch eine Dependance, die sie Haus der fünf Kontinente nannte. Sarah Bernhardt war ihrer Zeit mit diesem Größenwahn weit voraus.«
»Eine wahre Diva, nicht so ein aufgeblasenes Sternchen wie die von heute.«
»Das Einzige, was ihr nicht gelungen ist, hat mit dem Inselchen da unten zu tun, Le Basse Hiot. Dort wollte sie sich begraben lassen, aber die Fischer brauchten es als Anlegestelle für ihre Boote und konnten sie nach einigem Hin und Her schließlich von dort vertreiben. Sarah kaufte das Inselchen zwar, aber man hat nicht zugelassen, dass sie es auch nutzt. Du könntest dich hier nicht häuslich niederlassen, Emma, es sei denn, du wärst sehr, sehr reich.«
»Warum?«
»Weil du nicht Auto fahren kannst. Wie um alles in der Welt ist es übrigens möglich, dass jemand wie du keinen Führerschein besitzt?«
»Das ist reine Faulheit, mein Schatz. Außerdem kann ich Autos nichts abgewinnen. Ich gehe gerne zu Fuß und habe darüber
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