Und immer wieder Liebe Roman
2005
Der TGV hat die Peripherie vor siebenunddreißig Minuten hinter sich gelassen und frisst nun Gleiskilometer in Richtung Quiberon. Aus dem Fenster wirken die Hügel wie die Buckel müder Kamele. Die Farben schwanken zwischen dem, was sie sind, und dem, was sie dem Hirn einer sentimentalen Exfreundin nach sein sollten: das Gelb der Sonnenblumen geht ins Ockerfarbene, das Grün hat an Intensität eingebüßt, die Baumstämme sind mit Schimmel bedeckt. Die Tropfen auf dem Glas zerrinnen zu feinen Streifen, so zart wie die Wimpern eines Kinds. Ich stelle die Tasche auf den Sitz, wo irgendjemand ein Exemplar von »Madame Figaro« liegen gelassen hat. Der Rhythmus des Zuges ist der eines auswendig gelernten Lieds. Ich denke, lese, weine, immer im Wechsel. Der Brief ist gut verstaut. Es ist ein kurzer Gruß, mit sofortiger Gültigkeit. Ihn zum soundsovielten Mal zu lesen, ist, wie einen Roman zur Hand zu nehmen, über dem man bereits Nächte vergeudet und trotzdem die Botschaft zwischen den Zeilen nicht verstanden hat. Ich kann nicht anders, ich muss ihn wieder hervorkramen. Muss mit eigenen Augen noch einmal lesen, was er geschrieben hat.
New York, den 22. Januar 2005
Barnes&Noble
Union Square
Meine Geliebte,
ich bin in unserer Buchhandlung. Dasselbe Café, dieselben Kacheln, Deine grellbunten Schriftsteller an den Wänden. Statt zu schreiben, würde ich eigentlich lieber zeichnen. Wenn nicht schon ein anderer, ein Talentierterer, es getan hätte, würde ich einen Strich aus Eisen und Zement zeichnen, der von imposanten Steinbögen überwölbt wird und Manhattan mit Brooklyn verbindet. Ich würde eine Brücke zeichnen. Unsere wurde noch während der Bauzeit aufgegeben, aus Gründen, die nicht von unserem Willen abhängen. Die Brooklyn Bridge ist von Korrosion bedroht, was die Zuständigen vom Department ständig vergessen. In regelmäßigen Abständen kündigen sie Restaurierungsarbeiten an, aber zwischen den Alarmrufen vergehen stets Jahre und es tut sich letztendlich doch nichts. Es ist zu teuer, Hand an dieses Symbol zu legen.
Ich schreibe, und während ich schreibe, ahne ich Deine Kommentare und spüre Deinen Atem. Sagen wirst Du nichts, das weiß ich. Aber Du wirst an alles denken und an das Gegenteil von allem. Außer an die Wahrheit. Denn es gibt eine objektive Wahrheit, die von den Tatsachen bestimmt wird. Beim letzten Mal mit Dir wollte ich Uhrzeiger und Meridiane leugnen, ich wollte nicht auf die Wut hören, die sich vor allem gegen mich selbst gerichtet hat und es noch immer tut. Wenn ich könnte, würde ich weinen.
Es war eine Liebesgeschichte. Sonst nichts, würde ein unbedachter, zynischer Buchkonsument sagen. Nur eine Liebe.
Diese Geschichte, unsere Geschichte, ist hier zu Ende, und es tut unendlich weh, die vier Buchstaben zu schreiben, aus denen
sich das Wort »Ende« zusammensetzt. Vier Buchstaben, wie die Buchstaben Deines Namens.
Unsere Liebe wird ewig sein. Darin liegt der Unterschied. Jede Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, das hast Du mir selbst beigebracht, das ist die Grundregel eines jeden Romans, der sich nach stimmigen Handlungsprinzipien entwickeln muss. Das schulden wir den Lesern.
Liebesgeschichten enden, wenn man sich nicht mehr liebt, denkst Du jetzt, Emma.
Ich weiß, dass es keine Rechtfertigung für mein Verhalten gibt. Ich weiß, dass hinter meinem Tun keine Logik steckt, keine nachvollziehbare Begründung – aber es hat nichts mit Sadismus oder Gemeinheit zu tun.
Es ist Unfähigkeit. Das denkst Du jetzt. Ich bin nicht immun gegen Erpressungen der Angst, des Schmerzes. Der Fehler, mein Fehler, wird in die Vergangenheit verbannt. Nachts irrt er herum und findet keine Ruhe, sucht nach Halt, raubt mir den Atem. Ich bin zusammengebrochen, liebste Emma. Es war nicht die langsame Korrosion der Gewöhnung, und es ist ohne Hauptbeweisstück passiert, wie man in der Gerichtsmedizin sagen würde. Ich habe keine Beweise, oder besser gesagt, ich habe nur einen einzigen. Dich trifft keine Schuld. Diese Totengräbersprache ekelt mich an, aber ich habe keine Worte mehr.
Nur eines. Ich weiß, was Du über uns denkst, über unsere Begegnung: »Mögliche Liebe ohne Möglichkeit«. Der Protagonist ist schuld. Unfähig, den einzigen Satz zu sagen, der heute in diesem kalten New York, das so aseptisch ist wie ein Krankenzimmer, Sinn ergibt. Diesen: Ich liebe Dich.
Federico
Ich hätte es wissen müssen. Eine Insel, die aus Tränen entstanden ist,
Weitere Kostenlose Bücher