Und immer wieder Liebe Roman
gebiert Tränen. Wenn ich eine echte Buchhändlerin wäre, hätte ich zwischen den Zeilen gelesen. So aber habe ich mich darauf verlassen, dass alles wie gewohnt zu funktionieren scheint und dabei die Zeichen der Zeit übersehen. Und auf einmal, ganz plötzlich, zischt die Axt hernieder und haut sämtliche Sicherheiten einer Geschichte in Stücke. Die Augen aufmerksamer Leser lassen sich von albernen Handlungen nicht übertölpeln. Sie wissen von der ersten Seite an, wie alles ausgehen wird, und lesen es Seite um Seite aus den Worten heraus. Ich bin offenbar eine zu oberflächliche Leserin. »Und lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage«, ist ein Märchen, das man Kindern erzählt, ohne zu begreifen, wie genau die Kleinen wissen, dass ein glückliches Ende nur lästiger Fragerei vorbeugen soll. Wenn Mama und Papa vor Müdigkeit umfallen oder Freunde am Tisch sitzen, dann möchte die Stimme des Erzählers so schnell wie möglich fort. Die märchenbegeisterten Eltern glauben auch, dass ein schnelles Ende einen Schlaf ohne Alpträume garantiert.
Echte Liebesromane müssen schlecht ausgehen. Eine Geschichte mit Happy End ist zwei mit tragischem Ausgang wert, und für einen Roman mit einem männlichen Ekelpaket als Hauptfigur bekommt man zwei mit Schreckschrauben in dieser Rolle. Das weiß ich doch eigentlich alles. Aber ich habe es nie auf mich selbst bezogen.
Du wirst dich damit abfinden, Emma.
Schienen. Bahnhof. Die Locmaria . Die Silhouette der Insel. Das auserwählte Ziel wirkt in seinem Ungestüm fast trotzig.
Es geschieht dir recht.
Es regnet weiter vor sich hin. Ich schleppe den Sack bis zu den Stufen des La Touline. Ich bin nicht in der Lage, mich anzuziehen, mich zu schminken, mich gerade zu halten.
In der Halle mit den dicken Wänden nähere ich mich der Rezeption. Bevor Liebende hier unterkamen, lagen unter diesem Dach die Apotheke, eine Schusterwerkstatt und die Fabrik, in der Sardinen in Dosen verpackt wurden. Ich krame in meiner Tasche nach meinem Personalausweis. Der Regen schlägt an die Fenster, das macht das Lügen leichter.
»Alles in Ordnung, danke. Nein, ich komme nicht zum Essen herunter. Ich möchte mich ausruhen.«
Sie möchte keinen Ausweis sehen, und sie fragt mich auch nichts. Es mag Einbildung sein, aber sie scheint mich mit Röntgenaugen anzuschauen. Auch für sie ist alles anders. Sie hat so gerne mit Federico auf den Rasenterrassen hinter dem Haus geplaudert.
»Haben Sie alles, was Sie brauchen, Emma?«
»Danke, ja.«
Alles-was-ich-brauche hat seine Meinung jedoch nicht geändert. Bis zum letzten Moment hatte ich darauf gehofft, dass er mir auf der Mole entgegenkommt, mich in den Arm nimmt und erklärt, dass alles nur ein Missverständnis war. Oder ein schlechter Scherz.
Ich hätte ihn verprügelt und beschimpft und ihm erklärt, dass das so ist, als würde man jemandem fälschlicherweise sagen, dass er einen Tumor hat (wobei man sich in diesem Fall damit entschuldigen könnte, dass man die Krankenakte verwechselt habe). Ich würde Schadenersatz von ihm fordern – für unrechtmäßig zugefügten Schmerz. Auch wenn es gar keinen rechtmäßig zugefügten Schmerz gibt. Schmerz ist immer Unrecht.
Der Instinkt hat mich in diese Geschichte getrieben, und nun ist es der Instinkt, der mich dazu veranlasst hat, hier zu sein, an exakt dem Datum, das mein schwachsinniges persönliches Schicksal für mich festgesetzt hat.
Leichter Nebel senkt sich herab. Zwischen den Sternbildern, die ich nicht kenne, leuchtet ein vereinzelter Stern heller als alle anderen. Vielleicht ist das nur eine Folge meiner Kurzsichtigkeit, aber ich suche nach Zeichen, nach Antworten und Enthüllungen. Beim Himmel fange ich an. Ich schließe die Augen und öffne sie wieder und denke, dass ich stundenlang fort war.
Die Nummer 5 ist so ordentlich, wie es sich für ein Hotelzimmer gehört, bevor es in Beschlag genommen wird. Aus dem Fenster sehe ich die robuste Rasendecke. Der blaue Fischkutter unten im Hafen ist abgetakelt, die Mole ausgestorben, und im Café de la Cale sitzen keine Kunden.
Marcel Proust hat die verlorene Zeit gesucht und sie immer anders gefunden, als er es sich vorgestellt hatte. Ich möchte nichts von der Zeit wissen, die ich verloren habe, und so begrüße ich es, dass ich alles vergesse. Ich bin absichtlich gekommen. Ich bin hier, um die Vorzüge der Einsamkeit wiederzufinden. Man kann es lernen, das Gefühl der Freiheit zu genießen und es auch in der Stille heraufzubeschwören. Man kann
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