Und immer wieder Liebe Roman
angebrochen. Ich fühle mich besser als bei meiner Ankunft. Auf Belle-Île schlafe ich auch ohne die Tees meines Kräuterexperten gut. Für die Rückreise habe ich einen ganzen Vorrat an Emotionen angesammelt, mit denen ich mich in nächster Zeit beschäftigen kann. Die Trauerarbeit schreitet voran. Ich bin nicht einmal verdrießlich geworden, im Gegenteil. Jetzt muss ich zu Madame. Lust, irgendetwas zu erklären, habe ich nicht, doch das ist Teil der Inszenierung.
Vielleicht sprechen wir heute zum letzten Mal miteinander. Ihre Diskretion in den letzten Tagen wusste ich sehr zu schätzen. Sie hat mich nichts gefragt, nur: »Alles in Ordnung, Emma?«, obwohl sie wusste, dass gar nichts in Ordnung ist. Ich habe die Zeit damit verbracht, Dinge zu sehen, die nicht da waren.
Und diese Stimme zu hören, die mit dem Wind kam.
»Sie sind heute früh dran. Ziehen Sie sich eine Jacke über, Emma, es wird kalt. Ich erwarte Sie heute Abend zum Essen, der Fischer hat mir einen Seeteufel versprochen. Dann können wir in Ruhe Abschied feiern.«
In der Nacht hat es geregnet, draußen riecht es nach Wald. Die Insel dankt mir meine Treue mit dem Lächeln von Monsieur Moulinc, der mir einen guten Preis macht. Viele Fahrräder verleiht er zurzeit nicht, und er mag mich wohl. Meine Hüte gefallen ihm, sagt er und schenkt mir eine Blume.
Bis zur Pointe d’Arzic ist es ein paar Kilometer, das müsste ich in einer Stunde schaffen. Die drei Pilatesstunden wert ist, denn es strafft die Schenkel und sorgt für einen knackigen Po.
Den brauchst du nicht mehr, Emma.
Ich entferne den letzten Pfahl von der Grenze des Reviers, das ich markiert hatte. Arme, dumme Emma, du warst nie eine gute Partie. Der Vater dieses sagenhaft reichen jungen Manns hatte einen untrüglichen Riecher für Geld. Wie J.P.M., wie dieser Börsenmakler, in den Alice vernarrt war. Trau nie einem Schriftsteller oder einem Millionär. Und auch nicht jemandem mit dunklen, zerzausten Locken oder langen, muskulösen Beinen. Trau niemandem, der den Kopf gebeugt hält und bereitwillig nach unten schaut. Glaube niemals jemandem, der Eau Sauvage benutzt. Oder eine gerade Linie ziehen kann. Ich bin aufgebracht, und jeder Tritt in die Pedale ist ein Schritt in die Freiheit.
Hätte er doch bloß darauf verzichtet, die Buchhandlung zu betreten, dann wüsste ich nichts von der Schönheit dieser Insel. Die Liebe bringt einem die Geografie näher.
Schönheit kann aber auch langweilig sein.
Es regnet, was das Zeug hält, und Monsieur Moulinc schaut die vollkommen durchnässte italienne verblüfft an, als sie ihm das Fahrrad zurückgibt und ihm ein Küsschen auf die Wange drückt. Das Abendessen wartet, die letzte Etappe auf dem Weg von Buße und Freiheit.
Jeanne, adieu.
Ich gehe in mein Zimmer hoch, ziehe die Vorhänge zu und lege mich, ohne die Tagesdecke abzunehmen, aufs Bett. Auf irgendetwas warte ich, und langsam, wie zwischen den Wehen, zwischen zwei Schmerzschüben, weitet sich etwas in meiner Brust, und der Druck lässt nach. Der einzige Lärm, der an mein Ohr dringt, ist das Geschrei der Möwen, die über der Hafenmauer kreisen. Um halb acht fährt die Sirene der Locmaria wie ein Dolch zwischen meine Rippen. Ich lasse mich besser noch ein wenig in der Wanne durchweichen, bevor ich mich Annick Bertho und ihren wahrscheinlichen Fragen und meinen wahrscheinlichen Lügen stelle. Besser, ich bleibe im Allgemeinen, schärfe ich mir ein. Ich erzähle keine Details. Und vor allem lamentiere ich nicht.
Ich mache mich sorgfältig zurecht. Kein Schmerz sieht die äußerliche Vernachlässigung vor.
Die Zeit der Erinnerungen ist angebrochen. Das wird mir sofort klar, als ich den Speisesaal betrete. Sie erwartet mich im marineblauen Kostüm, an der Jacke eine filigrane Weißgoldbrosche mit kleinen eingesetzten Perlen. Der Tisch ist für zwei gedeckt, in die weiße Tischdecke sind Muscheln eingestickt. Es ist offensichtlich,
dass Annick – sie möchte, dass ich sie so nenne und nicht mehr das umständliche »Madame« verwende – unser Treffen sorgfältig vorbereitet hat. Ich vertraue auf ihre Freundlichkeit. Ich werde mich zurückhalten.
»Es ist so bedauerlich, dass Sie abreisen müssen, ohne einen einzigen Sonnentag gehabt zu haben. Dieses Jahr hatten wir kein Glück mit dem Wetter. Jetzt können wir nur noch auf den Sommer hoffen.«
»Belle-Île ist bei jedem Wetter zauberhaft, Annick. Ich habe mich erholt und sehr schöne Fahrradtouren gemacht«, antworte ich und
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