Und immer wieder Liebe Roman
und im Sommer schwere Ketten, schlafe nicht mehr in Hotels, die weniger als vier Sterne haben, meide Campingplätze, brauche Zeit, um mich präsentabel herzurichten, gehe langsamer, aber... Bitte vergleich selbst! Von heute an tun sich ganz neue Gelegenheiten auf. Ich fühle mich nicht mehr gezwungen, jünger wirken zu müssen, und wenn es also jemand sagt (dass man mir mein Alter nicht ansieht, meine ich), wird meine Freude umso größer sein. Ich lege mein glyzinienfarbenes Schultertuch über den Arm, werfe den Brief ein und kehre nach Hause zu meiner fröhlichen Familie von Freunden zurück, genieße das Privileg, mich nicht an den häuslichen Verrichtungen beteiligen zu dürfen, bin beschwipst von einem Bier, das meine Sorgen vertreiben soll.
Ich denke an Dich, in neu gewonnener Nüchternheit,
Deine Emma
P.S. »Ich sehe wieder den Wind durch die Nussbaumhecke streichen und die Versprechen in meinem Herzen brennen, als ich diese Goldmine zu meinen Füßen betrachtete: ein ganzes Leben lag vor mir. Die Versprechen wurden alle gehalten. Und doch, wenn ich einen ungläubigen Blick auf dieses gläubige Mädchen werfe, wird mir zu meinem Erstaunen bewusst, in welchem Ausmaß ich betrogen wurde.«
Als sie in Der Lauf der Dinge diese Sätze schrieb, war Simone de Beauvoir, die Frau, die meine Jugend geprägt hat, fünfzig Jahre alt.
New York, den 30. August 2001
BBB, 41 E 11 th St
Liebe Emma,
in einer Sache möchte ich Dich beruhigen: Ich habe dieselbe Zahl an Jahren hinter mir, ich mache jeden Morgen Hanteltraining, mein Bizeps ist noch fest, aber ich kenne das Gefühl (das mit dem schwabbeligen Arm), nur dass es sich bei mir auf die Hüften konzentriert. Du solltest anerkennen, dass wir einen Vorteil haben. Mit zwanzig, dreißig konnten wir noch keine klare Vorstellung davon haben, wie wir im Alter aussehen werden. Jetzt, mit fünzig, schon. Du und ich, wir können jetzt schon sagen, wie wir in einem Jahrzehnt ungefähr sein werden. Da wird es keine großen Überraschungen geben. Auf unseren Schultern, auf unserer Haut, lastet eine Vergangenheit, unsere Fortpflanzungsorgane haben ihre Pflicht erfüllt. Wir sind zwei Kontinentalmassive, die eine Kollision riskieren könnten, aber wir befinden uns mitten in einem Umbruch, dem hin zur Langlebigkeit, die uns auf den demographischen Tsunami zutreibt. Ich studiere Statistiken, weißt du, denn sie sind nützlich, um bestimmte Phänomene zu verstehen.
Ich versorge Dich ein wenig mit Denkstoff, während ich mir meine Post-Pause gönne. Die Demographen behaupten, dass im Jahr 2050 in den entwickelten Ländern die mittlere Lebensdauer bei neunzig Jahren liegen wird. Wir werden es nicht mehr erleben, dass die Welt von gebrechlichen oder pflegebedürftigen Menschen bevölkert wird, aber das Szenario macht klar, dass wir uns bis zum letzten verfügbaren Neuron anstrengen müssen. Die Buchhandlungen in Manhattan quellen über vor Titeln wie Sechzig Dinge, die du für das Glück mit sechzig tun kannst . Sechzig Anregungen von Schriftstellern und Zukunftsforschern, die sich dazu äußern, wie wir unsere nächsten Geburtstage feiern sollen. Wir haben alle Zeit der Welt, uns darauf vorzubereiten, hab keine Angst.
Federico
P.S. (geflüstert) Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag, meine Freundin.
Über die Piazza Sant’Alessandro hat sich ein unwirkliches Schweigen gelegt, wie bei einer Fußballweltmeisterschaft. Man hört nur metallische Geräusche und angsterfüllte Stimmen, ein furchtsames Raunen. Die Welt ist vor den Fernseher gebannt.
Mailand, den 12 . September 2001
Lust&Liebe
Lieber Federico,
der Laden ist eine schützende Hülle, wie der Brutkasten für ein Neugeborenes, und so werde ich nicht von meinen Träumen verwirrt, gequält, in meinen Gedanken gestört. Ich hatte keine unheilvollen Alpträume mehr. Seit gestern sind sie wieder da. Es
wird über nichts anderes mehr gesprochen, und ich gestehe, dass ich Angst um Dich habe. In meinem privaten Schlupfwinkel höre ich im Radio von der größten Katastrophe unseres Lebens. Ich denke an Dich, unterdrücke aber den Impuls, die Nummer Deines Pariser Büros herauszusuchen, um mich wenigstens zu erkundigen, wo Du gerade bist. Mitten im Spiel die Regeln zu ändern, wäre ein Fehler, und ich rufe nicht an, aber bitte, schreib mir.
Emma
P.S. Ein Satz für Dich. Die Dichterin Marina Zwetajewa hat ihn an Boris Pasternak geschrieben: »Die Form der Verbindung, die ich
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