Und immer wieder Liebe Roman
bevorzuge, ist die überirdische: im Traum sehen. An zweiter Stelle steht die Korrespondenz.«
New York, den 20. September 2001
42 W 10 th St
Liebe Emma,
da bin ich. Ich schreibe Dir von zu Hause, wo ich zurzeit alleine bin. Renzo ist nach Paris zurückgekehrt, und Dir von den letzten neun Tagen zu erzählen, es zumindest zu versuchen, hilft mir, das Zittern zu bekämpfen. Ich beginne am Montag, dem 10. September, als ich am späten Nachmittag nach einem langweiligen und unproduktiven Flug (ich habe weder geschlafen noch gelesen oder gearbeitet) am J.F.K. landete. Meine Laune war im Keller. Ich habe ein paar Telefonate getätigt und mich dann, vollkommen fertig, in ein Taxi geschmissen.
Renzo war schon in New York, wegen eines großen Treffens mit Bürgermeister Giuliani und anderen New Yorker Stadtgrößen, in dem es um die neue Architektur in Manhattan gehen sollte. Mich hatte er für Mittwoch zu einer Besprechung mit den Partnern
in die Morgan Library gebeten (Thema: Kostenbegrenzung). Wir hatten uns darauf vorbereitet, ihm die Änderungen am Projekt vorzustellen: Wenn wir uns statt fünf unterirdischen Stockwerken auf drei beschränkten, wären wir kostenmäßig wieder im Plan, und das sogar, ohne von der ursprünglichen Konzeption abrücken zu müssen. Sarah und Anna waren bei Freunden außerhalb der Stadt (wo sie dann auch geblieben sind, wie Du Dir sicher vorstellen kannst).
Ich saß also im Taxi – ich erinnere mich, dass der Himmel bleigrau war, aber das ist mir erst im Nachhinein wieder eingefallen -, sah aus dem Fenster und spürte eine seltsame Anspannung, als würde die Zeit stillstehen, und als wir über die Queensboro Bridge fuhren, sah ich plötzlich zwischen den beiden Türmen einen Blitz. In meinem Egoismus hoffte ich, rechtzeitig nach Hause zu kommen, bevor es zu regnen anfangen würde. Als ich endlich die Tür zu meiner Wohnung aufschloss, war ich müde und habe mir nur noch zwei Eier und einen Salat gemacht, bevor ich schlafen gegangen bin.
Am Dienstag, an jenem verdammten Dienstag, habe ich ein paar Telefonate mit dem Pariser Büro geführt und dann das Haus verlassen. Um halb neun wollte ich in meiner Lieblingsbar unten im Haus frühstücken. Ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Wenige Minuten später war die Welt eine andere geworden, war meine Welt eine andere geworden: Unmöglich anzurufen, ins Internet zu gehen, zu verstehen, was da passiert. Die Geräusche, Emma. Die Sirenen der Ambulanzen und der Fernsehbildschirm am Tresen. Ich sah, was Du und Millionen anderer Menschen in diesem Moment sahen. Ich konnte nicht telefonieren, konnte nicht begreifen, konnte bloß auf diesen Bildschirm starren. Mein Körper war nur wenige Blocks von der Hölle entfernt. Ich fühlte mich allein.
Zwei Tage lang wusste ich nur das, was im Fernsehen berichtet wurde. Anna und Sarah waren unerreichbar. Renzo war wenige Kilometer von mir und meiner großen Angst entfernt. Donnerstag Nacht habe ich ihn telefonisch erreicht. Er war erschüttert. Wir haben uns im Foyer seines Hotels verabredet. Subway und Busse fuhren nicht, aber wie ein Soldat ohne Heer zu marschieren, milderte die Angst, die mich nie verlassen hatte. Freitag, den 14. September, zehn Uhr. Der Chef hatte Geburtstag, und normalerweise feiern wir alle zusammen, je nachdem, wo wir uns gerade befinden. Brian Regan und Charles warteten bereits. Der Marschbefehl für den Tag hatte sich geändert. Es musste kein Budget mehr gekürzt, sondern eine Frage beantwortet werden: Was tun? Als ich jetzt vor den wichtigsten New Yorker Mitarbeitern saß, die ich schon bei der Auftragsübernahme kennengelernt hatte, war alles anders – ihre Gesichter, ihre Hände, die Bestürzung, die wir in unser aller Augen lasen. Der Chef brachte es knapp auf den Punkt: »Was auch immer passiert, wir machen weiter!« Seine Energie war ungebrochen, vielleicht hatte sie sogar noch zugenommen. Renzo zog ein paar Linien, und da war sie, die neue Morgan Library mit den reduzierten Untergeschossen.
Das Projekt wurde schließlich in seiner neuen Gestalt genehmigt, aber das war ein unbedeutendes Detail, kannst Du das nachvollziehen? Wir traten hinaus unter den aschgrauen und allzu unbekümmerten Himmel, der mich an den Mantel in der Verkündigung an Maria von Antonello da Messina denken ließ. Vor dem John Murray House in der Madison Avenue setzten wir uns auf eine Treppenstufe. Der Spa-Bereich war geschlossen, die Restaurants, die Fensterläden, die Bar. Alles
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