Und immer wieder Liebe Roman
Schaufenster mit Romanen dekoriert, in denen es erst nach endlosem Hofieren, unüberwindlichen Schwierigkeiten und kühnen Abenteuern zum ersten Kuss kommt. Hier eine Kostprobe: »... so reg dich, Holde, nicht, derweil mein Mund dir nimmt, was er erfleht... Nun hat dein Mund ihn aller Sünd’ entbunden.« William Shakespeare. Romeo zu der jungen, unternehmungslustigen Julia. Ich muss jetzt aufhören. Alice hat einen Gegenvorschlag gemacht, ein Sommerschaufenster, und sammelt Banalitäten zusammen: sonnige Gemüter, unberührte Strände, zauberhafte Landschaften, prächtige Pflanzen, Rosengärten, Morgentau, Laubzweige, Beete, Wäldchen, Flirts ohne Liebe und
Gärten, Gärten, Gärten. Meine Vorschläge waren: Der geheime Garten von Frances Burnett, Elisabeth und ihr Garten von Elizabeth von Arnim, Wahlverwandtschaften von Goethe, Jenseits von Afrika von Tania Blixen und Only say the word von Niall Williams, das gestern geliefert wurde. Vor ein paar Stunden habe ich damit angefangen. Und kann es nicht mehr weglegen. Und verspüre den heftigen Wunsch, jetzt sofort nach Irland zu fahren.
Es umarmt Dich Emma, die Vergessliche
P.S. Und Morgan? Hatte er neben Geldverdienen und Kunsterwerb noch Zeit für die Liebe?
New York, den 30. Juli 2001
Rapture Café
200 Avenue A
Liebe Emma,
am Abend des 26. März 1902, nach einem in geschäftlicher Hinsicht unerfreulichen Tag, saß John Pierpont Morgan in seinem Büro. Allein, wie so oft. Zur Essenszeit rief er den Architekten Charles McKim an und bat ihn um eine Unterredung.
McKim ließ sich nicht lange bitten und erschien am nächsten Tag in der Madison Avenue 219. Bei einer Tasse Tee beauftragte J.PM. McKim dann damit, auf dem Nachbargelände ein Haus für seine Tochter und ein Gebäude für ihn selbst zu bauen, wo er seine Bibliothek unterbringen könne. McKim schlug Morgan vor, eine Marmorvilla im italienischen Stil zu errichten. Wenige Monate später war der Bau in vollem Gang und wurde vom Hausherrn, der jedes Detail persönlich kontrollierte, aufmerksam beobachtet. Er schlug Materialien und Werkstoffe vor, unterschrieb Kaufverträge, ohne mit der Wimper zu zucken, und dachte sogar
daran, McKim nach Rom zu schicken, nur um einen Feuerbock aus dem sechzehnten Jahrhundert zu besorgen. Seine eigenen architektonischen Visionen mit den Wünschen des Mannes zu vereinbaren, der »Lorenzo der Prächtige« genannt wurde, hätte McKim enorme diplomatische Anstrengungen abverlangen können, aber zwischen den beiden hatte sich eine starke empathische Beziehung entwickelt. Als McKim im Sommer 1905 einen Nervenzusammenbruch erlitt und ihm absolute Ruhe auferlegt wurde, schlug er vor, dass sein Kompagnon Stanford White die Arbeit beenden solle. Morgan wollte nichts davon wissen, sondern bat ihn, sich Urlaub zu nehmen und die Morgan Library zu vergessen. »Die Arbeit wird bis zu deiner Rückkehr ruhen«, soll er gesagt haben. »Niemand außer dir soll sie anrühren.« Schöne Anerkennung für einen Architekten, Emma, wenn er von seinem Auftraggeber für unverzichtbar gehalten wird. Im November 1906 hielt J. P. M. die erste Geschäftsbesprechung im Westraum der Bibliothek ab, zwischen roten, mit Damast bespannten und mit dem Renaissancewappen der Familie Chigi geschmückten Wänden. Von jenem Moment an nutzte J. P.M. sein Büro an der Wall Street kaum noch und bevorzugte jenes, das seine Kollegen »die höhergestellte Filiale« nannten. Heute Morgen war ich mit Frank dort. Wir wurden vom Direktor empfangen, Charles E. Pierce Jr., der jeden Winkel dieses Schmuckstücks kennt. Er hat uns in den Tresorraum begleitet, hat einen Panzerschrank geöffnet, eine blaue Leinwandschachtel von der Größe eines Straßenatlas herausgezogen und uns damit allein gelassen. »Das ist eines der seltenen Exemplare der Gutenberg-Bibel, in lateinischer Sprache. Erfreuen Sie sich daran«, sagte er mit einem verhaltenen Lächeln. Ich war platt. Wie hypnotisiert hielt ich dieses auf Pergament gedruckte Monumentalwerk in den Händen. J. P.M. hatte es 1896 von einem englischen Kaufmann für 2750 Sterling erworben, das
sind ungefähr 13500 Dollar. Ich fühlte mich, als hätte man mich in eine Mönchszelle gesperrt, wo ich den Geist ihres Schöpfers atmen würde. Warum nur hatte dieser schwerreiche Herr ein so verzweifeltes Bedürfnis nach Schönheit? Die Antwort hat vielleicht mit seiner Nase zu tun. J. P.M. litt an Rosazea, einer mysteriösen, entstellenden Krankheit, die ihn zeit seines Lebens
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