Und immer wieder Liebe Roman
wird das aber nicht möglich sein, fürchte ich.
Roussillon, den 20. August 2001
Café du Village
Lieber Federico,
heute um zehn Minuten nach Mitternacht bin ich fünfzig geworden. Mein Gemütszustand: Verwunderlicherweise keine Depressionen oder Verstörungen, wie ich sie befürchtet hatte. Der Tag begann ohne jeden Schauder, ich habe keine feierlichen Schwüre abgelegt, es gab auch keine abrupten Stimmungsumschwünge, weder Euphorie noch Niedergeschlagenheit, keine gnadenlosen Inspektionen vor dem Spiegel, von den Armen mal abgesehen. Das ist ein Frauenthema, ein reines Frauenthema, demnach weiß ich nicht, ob Du mich verstehen wirst, aber ich versuche es trotzdem – ich habe zu Dir eine Art von Vertrauen, das keine Zensur duldet. Außerdem bist Du weit weg, und obwohl ich absolut sicher bin, dass man im Alter unsicher wird, kann ich über Deine Reaktion hinwegsehen. Also – heute Morgen habe ich eine Jeans und eine weiße Bluse angezogen. Eine ärmellose. Am Gartentor habe ich den Arm gehoben, um meinen Schindknechten zuzuwinken, habe nach rechts geschaut... und da habe ich es gesehen: Mein magerer Trizeps schwabbelte wie Wackelpudding, der verräterische Arm, und das, obwohl ich dreimal die Woche zur Gymnastik gehe! Federico, seit diesem Morgen bin ich offiziell eine Frau mittleren Alters. Panik hat mich gepackt, aber das sage ich nur Dir. Ich könnte sterben, ohne noch einmal den endlosen
Katalog menschlicher Leidenschaften in der schweißgeborenen Version von Proust zu lesen. Oder Krieg und Frieden (eintausendvierhundert Seiten), Die Pickwickier, David Copperfield. Wie könnte ich mit der Schuld fertigwerden, dass ich nie Zeno Cosini oder Lord Jim aufgeschlagen habe, nicht das Gesamtwerk von Kipling, dass ich Die Menschliche Komödie von Balzac und Manzonis Die Verlobten nicht einmal zur Hand genommen habe? In der Schule hat man uns dieses Buch hassen gelehrt, und doch fühle ich mich unwissend, zerstreut, oberflächlich, allzu schnell meiner Zeit beraubt, um diese Lücke zu schließen. Wer weiß, ob sich »da oben«, wenn ich mal alle Zeit der Welt zum Lesen haben werde – eine Ewigkeit sogar -, überhaupt eine Bibliothek befindet. Ich trinke Bier, für eine Abstinenzlerin reicht das, um die Realität verschwimmen zu lassen. Bevor sie in ihren »Frauenurlaub« aufgebrochen ist, hat Alice ein Paket von unverwechselbarer Gestalt auf meinen Schreibtisch gelegt, eingeschlagen in gelbes, helloranges und dunkeloranges Transparentpapier und mit einem kastanienbraunen Ripsband umwickelt. Ich habe es, wie versprochen, heute ausgepackt: Die sieben Spiegel der Lady Frances von Elizabeth von Arnim (dem Pseudonym von Mary Annette Beauchamp, geboren Ende des neunzehnten Jahrhunderts, eine Australierin aus Sydney, die mit Henning August Graf von Arnim-Schlagenthin verheiratet und die Cousine von Katherine Mansfield war). Ich schreibe den Anfang hier ab, um Dir für den Fall aller Fälle zu zeigen, in welchem Ausmaß gedrucktes Papier die Macht hat, sich mit der Wirklichkeit zu vermischen und der weiblichen Existenz einen unbarmherzigen Spiegel vorzuhalten: »Ihr fünfzigster Geburtstag stand kurz bevor. Einen so wichtigen Meilenstein zu erreichen, eine solche Mahnung zur Nüchternheit...«. Nüchternheit, was für ein albernes Wort. Ich sitze an meinem Tischchen wie eine Urlauberin aus alten Zeiten, nippe an meinem Bier, beobachte
die Alten und kann Dir gar nicht sagen, ob ich ein solches Bedürfnis nach Nüchternheit habe. Liegt es nun am Geburtstag oder an den Schlierenwolken, die mir so gar nicht in die schöne Provence zu passen scheinen – jedenfalls sehe ich plötzlich, wie sich der Schatten des Alters über mich legt: Eine uralte, launische, fuchtige Emma, genauso werde ich sein, ganz bestimmt. Für mich ist das eine unerträgliche Vorstellung, und dem Enthusiasmus der Leute, die darauf hinweisen, dass wir doch immer länger leben, kann ich nicht viel abgewinnen. Ist das wirklich ein Vorteil? Andererseits, lieber Federico, gibt es noch die andere Seite der Medaille, den positiven Gedanken an das Heute. Unser Alter hat Vorteile. Wir können nicht mehr überall, wo es uns gerade passt, Sex haben, wir mögen lieber bequeme Betten als eine Wiese, aber wir müssen auch nicht mehr auf Biegen und Brechen verführen, zumindest gilt das für mich. Ich bin harmlos geworden. Jedenfalls mache ich nicht mehr die Nächte durch wie mein Sohn, sondern gehe früh ins Bett, trage ab sofort im Winter Rollkragenpullis
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