Und immer wieder Liebe Roman
stand still. Wir blickten zu Boden, starrten auf ein Fleckchen Straße, das unsere Gedanken in Bann hielt. Zwei Asphalt-Cowboys im Schatten gediegener Luxushäuser. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte ich.
Er lächelte mich an, mit diesem offenherzigen, guten Gesicht, das etwas so Beruhigendes hat, und fuhr sich mit den Fingern über den kurzen Bart des modernen Patriarchen. »Ich habe seit vielen Jahren nicht mehr geweint«, vertraute er mir an. »Aber neulich habe ich es getan. Sie sind vor meinen Augen in sich zusammengefallen.« In diesem Moment vernahmen wir ein Rumpeln, wie einen Donner, dem man einen Dämpfer aufgesetzt hat. Wir sind hochgesprungen und in Richtung des Geräuschs in unserem Rücken gelaufen. Es war unglaublich. Stell Dir nur vor, Emma, auf einer Straße von der Breite einer Autobahnspur näherten sich Panzer mit Tarnnetzen, sie krochen aus Uptown herbei wie Riesenspielzeuge in einem Spielberg-Film. Das ist keine Science Fiction. Das war alles real, meine verehrte Freundin, so wirklich wie meine innere Lähmung und das Gefühl, überflüssig und machtlos zu sein, das ich seit jenem Unglückstag nicht mehr loswerde. Hier gibt es keinen Neubeginn. Hier hat alles wieder begonnen. Passiver Zeuge der Ereignisse zu sein, muntert mich kein bisschen auf.
Heute Abend kehren Sarah und Anna zurück. Wie alle müssen wir unsere kleine, elende Normalität wiederfinden. Ich denk an Dich und hoffe, dass Du meinen Brief schnell bekommen wirst,
Federico
P.S. Bei der Post habe ich Deine Briefe erst sortieren müssen. Der Stapel in meinem Metallgehäuse hat mir das Gefühl des Alleinseins genommen.
»Jetzt gibt es uns schon ein ganzes Jahr. Die Buchhandlung braucht eine Website.«
»Der Buchhandlung geht es doch ausgezeichnet, so wie sie ist.«
»Oh, Emma, komm schon, ich würde auch alles machen. Du müsstest dich um nichts kümmern.«
Wenn sie sich in den Kopf gesetzt hat, mich von etwas zu überzeugen, das sie schon seit Ewigkeiten mit sich herumschleppt, dem sie aber den Anschein geben möchte, als wäre es ihr just in dem Moment eingefallen, in dem sie ihren Lipgloss auffrischt, ist sie zauberhaft. Sie denkt, ich würde nichts merken. Ich kenne sie aber gut genug, um ihre Körperhaltung zu deuten und mich auf irgendeine bevorstehende Enthüllung vorzubereiten, wenn sich ihr Kopf zur Seite neigt, sie die Nase rümpft wie die Hauptdarstellerin in Verliebt in eine Hexe und ihre Stimme etwas Gurrendes bekommt.
Dieses »Wenn-man-keine-Website-hat-ist-man-ein-Niemand« wird allmählich zum Alptraum. Das Internet dringt schamlos in die Intimsphäre unseres Lebens ein und brüstet sich damit, auf jede erdenkliche Frage (selbst die unverfrorenste) eine Antwort zu kennen. Wir werden archiviert im Internet, unser Leben ist jedem Neugierigen und jedem Schnüffler zugänglich. Außerdem verführt das Internet zu Oberflächlichkeit und Faulheit. Weil wir wissen, dass wir das gesamte Weltwissen im Computer abrufen können, lassen wir die papierne Enzyklopädie, die allemal aufschlussreicher wäre, im Regal stehen. Ich habe noch über Vokabelheften geschwitzt, um Fremdsprachen zu lernen, und jetzt wird einem vorgegaukelt, dass man auf automatisierte Übersetzungsprogramme zurückgreifen könne. Dass diese Zufallsmaschinen Vokabeln allerdings Zwangsmetamorphosen unterwerfen und die armen Wörter zum Schweigen bringen, sagt keiner – dabei sollten die vergewaltigten Vokabeln schreien, sich verteidigen, sich für ihre Unantastbarkeit einsetzen. Im Internet grassiert ein erbärmliches Englisch, mit dem Ergebnis, dass sich Mattia und eine ganze Generation von Dummköpfen berechtigt fühlen, mit
Anglizismen und Abkürzungen nur so um sich zu werfen. Ein schönes rundes Wort wie Weihnachten wird zu einem spitzen, hastigen Xmas.
Alles Lamentieren ist zwecklos, ich bin allein in meiner Selbstverteidigung gegen eine Welt, die ich nicht mehr verstehe und die ich auch gar nicht verstehen will. Mittlerweile bin ich eine ethnische Minderheit, und ich habe nicht die Absicht, die Fünfzigjährige zu geben, der man ihre Angst vor der modernen Welt milde nachsieht. »Mama, keine Panik«, sagt mein Sohn immer. »Die Welt verändert sich, klar, aber wir müssen dranbleiben.« Mattia sagt »dranbleiben« in tausend verschiedenen Zusammenhängen, in denen man auch ganz andere Wörter benutzen könnte: sich auf dem Laufenden halten, etwas wiederholen, etwas weiterverfolgen. Im Falle von Beziehungen, so hat er
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