Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
eines Tages eine Frau.
Ich richtete mich auf, blinzelte mit bleischweren Lidern und versuchte zu begreifen, was los war. Fräulein Grybas hatte sich vor Jonas und Andrius aufgebaut. Ich zwängte mich zu ihnen durch.
»Und dann auch noch Dickens. Wie könnt ihr es wagen? Ihr werdet zu den Tieren, als die sie uns behandeln!«
»Was ist los?«, fragte ich.
»Dein Bruder und Andrius rauchen!«, schrie sie.
»Meine Mutter weiß Bescheid«, entgegnete ich.
»Bücher!«, sagte sie und stieß mir einen harten Umschlag gegen das Gesicht.
»Wir haben keine Zigaretten mehr«, sagte Jonas leise. »Aber Andrius hat noch Tabak.«
»Ich kümmere mich darum, Fräulein Grybas«, sagte Mutter.
»Die Sowjets haben uns verhaftet, weil wir viel wissen und viel gelernt haben. Buchseiten zu rauchen, ist ein Unding! Was denkt ihr euch nur dabei?«, fragte Fräulein Grybas. »Woher habt ihr das Buch?«
Dickens. Ich hatte Die Pickwickier in meinen Koffer gepackt. Oma hatte mir das Buch kurz vor ihrem Tod zu Weihnachten geschenkt. »Jonas! Du hast mein Buch gestohlen! Wie kannst du nur so dreist sein?«
»Lina …«, begann Mutter.
»Ich habe es gestohlen«, gestand Andrius. »Ich bin schuld.«
»Ja, du hast Schuld«, sagte Fräulein Grybas. »Du verdirbst diesen Jungen. Du solltest dich schämen.«
Frau Arvydas schlief hinten im Waggon und merkte nicht, was los war.
»Du Idiot!«, schrie ich Andrius an.
»Ich besorge dir ein neues Buch«, sagte er.
»Wie denn? Es war ein Geschenk«, sagte ich. »Ich habe das Buch von Oma bekommen, Jonas.«
»Tut mir leid«, murmelte Jonas und ließ den Kopf hängen.
»Ja, das sollte es auch!«, schrie ich.
»Es war meine Idee, Lina«, sagte Andrius. »Ihn trifft keine Schuld.«
Ich winkte abfällig. Warum waren Jungs nur so blöd?
21
Wir vergaßen, wie lange wir schon unterwegs waren. Ich sah nicht mehr zu, wenn man Tote aus den Waggons warf. Beim Anfahren des Zuges blieben jedes Mal viele Leichen zurück. Was würden Fremde bei ihrem Anblick denken? Würde man sie begraben oder tatsächlich für Diebe und Huren halten? Ich hatte das Gefühl, auf einem Pendel zu sitzen. Manchmal schwang es über einen Abgrund der Hoffnungslosigkeit, und manchmal, wenn es einen kleinen Lichtblick gab, schwang es wieder zurück.
So hielten wir eines Tages kurz hinter Omsk mitten auf dem Land. Dort gab es einen kleinen Kiosk. Mutter bestach einen Wachmann, um den Waggon verlassen zu dürfen. Als sie wieder angelaufen kam, war ihr Kleid schwer und prall gefüllt. Im Waggon fiel sie auf die Knie und öffnete das Kleid, aus dem sich Karamellbonbons, Kaubonbons, Lutscher, Lakritze, Berge von Weingummi und andere Leckereien auf den Fußboden ergossen wie ein bunter Regenbogen. Überall leuchteten helle Farben – Rosa, Gelb, Grün, Rot, und es gab genug für alle. Die Kinder quietschten vor Freude und sprangen herum. Ich biss auf ein Weingummi. Zitronengeschmack breitete sich in meinem Mund aus. Ich lachte, und Jonas stimmte in mein Lachen ein.
Es gab Zigaretten, Streichhölzer und Schokoladenplättchen für die Erwachsenen.
»Es gab nichts Richtiges zu essen, nicht einmal Brot«, erklärte Mutter, während sie den Schatz unter allen aufteilte. »Und auch keine Zeitung.«
Die Kinder hielten sich in ihrer Freude an Mutters Beinen fest und dankten ihr.
»Dummes Weib. Warum vergeuden Sie Ihr Geld für uns?«, fragte der Glatzkopf.
»Weil alle hungrig und müde sind«, antwortete Mutter und reichte dem Mann eine Zigarette. »Außerdem weiß ich, dass Sie im Notfall das Gleiche für meine Kinder tun würden.«
»Pah«, brummte er und wandte den Kopf ab.
Zwei Tage später fand Andrius, der mit den Eimern an der Reihe war, einen ovalen Stein, der Quarz und andere Mineralien enthielt. Man reichte ihn herum, und alle staunten darüber. Frau Arvydas legte ihn zum Scherz auf einen Finger, als wäre es ein kostbarer Schmuckstein.
»Ich bin eine Zugwaggonprinzessin«, sagte sie. »Das habt ihr nicht gewusst, wie?«
Wir lachten. Die Leute lächelten. Ich erkannte sie kaum wieder und sah zu Andrius. Sein breites Lächeln verlieh ihm ein ganz anderes Aussehen. Er war wirklich hübsch, wenn er lächelte.
22
Nach sechs Wochen hielt der Zug. Es war der dritte Tag ohne Essen. Doch die Tür blieb zu. Der Glatzkopf, der unsere Reise anhand der Städtenamen nachvollzogen hatte, die ihm vom Fensterschlitz aus zugerufen worden waren, vermutete, dass wir uns im nördlich von China gelegenen Altaigebirge befanden. Ich
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