Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
spähte durch Risse in der Bretterwand, aber draußen war es dunkel. Wir pochten gegen die Tür. Niemand öffnete. Ich dachte an den Laib Brot, den ich auf meiner Fensterbank vergessen hatte – er war frisch gebacken und noch warm und knusprig gewesen. Hätte ich doch nur ein klitzekleines Stückchen davon essen können. Einen winzigen Happen.
Mein Magen brannte vor Hunger, und mein Kopf pochte. Ich vermisste meinen Zeichenblock und sehnte mich nach Licht, um besser malen zu können. Die Nähe all der Menschen ging mir auf die Nerven. Ich roch ihren säuerlichen Atem und spürte immer wieder ihre Ellbogen und Knie im Rücken. Ich hätte sie manchmal am liebsten weggeschubst, aber das wäre sinnlos gewesen. Wir glichen Streichhölzern in einer kleinen Schachtel.
Am späten Vormittag ertönte ein metallisches Krachen. Die Wachleute öffneten die Tür und befahlen uns, auszusteigen. Endlich. Beim Anblick des Tageslichts zitterte ich am ganzen Körper. Ich vermerkte »Altai« auf meinem Taschentuch.
»Lina und Jonas, kommt her und kämmt euch«, rief Mutter. Sie glättete sinnloserweise unsere Kleider und half mir, einen Haarkranz zu flechten. Dabei juckte es noch schlimmer.
»Vergesst nicht, dass wir zusammenbleiben müssen. Entfernt euch nicht und streunt nicht herum. Habt ihr verstanden?« Wir nickten. Mutter machte ihr Haar. Sie holte einen weich gewordenen Lippenstift heraus und schminkte mit schwacher Hand ihre Lippen. Jonas lächelte. Sie zwinkerte ihm zu.
»Wo sind wir?«, fragte er. »Bekommen wir einen Eimer Wasser?«
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Mutter, die ihren Mantel fester unter den Arm klemmte.
Die NKWD-Männer hatten das Bajonett auf ihr Gewehr gesetzt. Die dolchförmigen Klingen blitzten in der Sonne. Sie konnten uns im Handumdrehen durchbohren. Zuerst halfen Fräulein Grybas und Frau Rimas den kleinen Kindern heraus, dann kamen wir. Andrius und der grauhaarige Herr trugen den Glatzkopf aus dem Waggon.
Dies war kein Bahnhof. Wir befanden uns in einem weiten, von bewaldeten Hügeln umgebenen Tal. Ich sah Berge in der Ferne. Der Himmel war nie so blau und schön gewesen. Ich musste die Augen vor der grellen Sonne beschirmen, atmete tief ein und spürte, wie die frische, saubere Luft in meine verdreckten Lungen drang. Die NKWD-Leute sorgten dafür, dass sich die Gruppen der Deportierten sieben Meter von ihrem jeweiligen Waggon in das Gras setzten. Wir bekamen einen Eimer mit Wasser und einen mit Brei. Die Kinder stürzten sich darauf.
Ich sah die anderen zum ersten Mal. Es waren Tausende. Ob wir genauso kläglich aussahen wie sie? Unzählige Litauer mit abgeschabten Koffern und prall gefüllten Beuteln ergossen sich in das Tal. Die Menschen waren dreckig, hatten graue Gesichter, und ihre Kleider waren so schmutzig, als hätten sie jahrelang in der Gosse gelebt. Alle bewegten sich wie in Zeitlupe, und manche hatten nicht mehr die Kraft, ihre Habseligkeiten zu tragen.
Wie die meisten anderen hatte auch ich meine Beine nicht unter Kontrolle. Viele wurden von ihrem eigenen Gewicht umgerissen.
»Wir müssen uns recken und strecken, bevor wir uns setzen, mein Schatz«, sagte Mutter. »Während der letzten Wochen sind unsere Muskeln sicher ganz steif geworden.«
Jonas reckte sich. Er sah aus wie ein dreckiger Bettler. Sein goldenes Haar klebte verfilzt am Kopf, seine Lippen waren trocken und rissig. Er starrte mich aus großen Augen an. Wie mochte ich wohl aussehen? Wir setzten uns ins Gras, das sich herrlich anfühlte. Im Vergleich mit dem Waggonboden kam es mir vor wie Federbett vor. Doch das Geruckel des Zuges steckte mir noch in den Knochen.
Ich betrachtete meine Mitreisenden, und sie betrachteten mich. Das Tageslicht enthüllte die Fremden, mit denen ich sechs Wochen ein finsteres Verlies geteilt hatte. Ona war nicht viel älter als ich. Als man sie aus dem Krankenhaus auf den Lastwagen geschafft hatte, war es dunkel gewesen. Frau Arvydas war attraktiver, als man im Waggon hatte erahnen können. Sie hatte eine sehr gute Figur, glatte braune Haare und volle Lippen. Frau Rimas war eine gedrungene Frau mit starken Waden, ungefähr in Mutters Alter.
Man versuchte, Kontakt mit anderen Gruppen aufzunehmen, hielt Ausschau nach Familienangehörigen und geliebten Menschen. Dann kam der Mann auf mich zu, der immer seine Uhr aufzog.
»Kannst du mir ein Taschentuch borgen?«, fragte er.
Ich nickte und steckte ihm das Tuch zu, sorgsam gefaltet, damit man die Schrift nicht sah.
»Danke«,
Weitere Kostenlose Bücher