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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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sagte er und tupfte seine Nase ab. Dann wandte er sich ab und verschwand in der Menschenmenge. Ich sah, wie er mit Handschlag einen Mann begrüßte, den er offenbar kannte, und ihm das in der Hand verborgene Taschentuch gab. Der Mann wischte sich damit über die Stirn und steckte es dann ein. Immer weitergeben, dachte ich und stellte mir vor, dass das Taschentuch von Hand zu Hand ging, bis es schließlich zu Papa gelangte.
    »Schau mal, Elena«, sagte Frau Rimas. »Pferdekarren.«
    Mutter stand auf und warf einen Blick in die Schneise zwischen den Gruppen. »Da sind Fremde bei den NKWD-Männern. Sie laufen zwischen den Leuten umher.«
    Andrius kämmte sein welliges Haar mit den Fingern. Er sah sich ständig nach Wachmännern um, hielt den Kopf aber gesenkt. Kein Wunder, dass er nervös war. Sein Gesicht war verheilt, wies aber noch gelbliche Stellen auf. Ob man ihn erkannte? Ihn verschleppte oder vor unseren Augen ermordete? Ich rutschte näher an ihn heran und versuchte, ihn hinter meinem Rücken zu verbergen, aber er war größer als ich und hatte breite Schultern. Ich betrachtete die spitzen Bajonette, und mein Magen krampfte sich vor Angst zusammen.
    Ona begann, lauthals zu weinen.
    »Leise«, befahl der Glatzkopf. »Sonst lenken Sie die Aufmerksamkeit auf uns.«
    »Bitte nicht weinen«, sagte Andrius, dessen Blick zwischen Ona und den Wachmännern hin und her zuckte.
    An der Spitze des Zuges wurden einige Litauer auf zwei Pferdewagen gescheucht. Sie fuhren weg. Ich beobachtete, wie die NKWD-Leute von Gruppe zu Gruppe gingen. Sie wurden von seltsam aussehenden Männern begleitet, bei denen es sich nicht um Litauer oder Russen handelte. Ihre Haut war dunkler, ihr Haar schwarz, und sie trugen einfache, abgerissene Kleidung. Sie blieben vor einer Nachbargruppe stehen und begannen ein Gespräch mit den NKWD-Leuten.
    »Was reden sie, Elena?«, fragte Frau Rimas.
    Mutter schwieg.
    »Elena?«
    »Wir …«, stieß Mutter hervor und verstummte.
    »Was?«, fragte Frau Rimas.
    »Wir werden verkauft«, flüsterte sie.

23
    Ich sah zu, wie die Männer die Gruppen abliefen und die Ware in Augenschein nahmen. Man zerrte die Leute hoch, drehte sie herum, begutachtete ihre Hände.
    »Warum verkaufen sie uns, Mutter?«, fragte Jonas. »Wohin kommen wir?«
    »Du musst ihnen sagen, dass Andrius geistesgestört ist, Elena«, sagte Frau Arvydas. »Bitte. Denn sonst wird man uns trennen. Lass den Kopf hängen, Andrius.«
    Ich sah mich in unserer Gruppe um. Sie bestand fast nur aus Frauen und Kindern. Dazu kamen zwei ältere Männer und natürlich Andrius. Trotz seiner Blessuren wirkte er kräftig und gesund.
    »Wollen wir gekauft werden?«, fragte Jonas. Niemand antwortete. Ein Wachmann kam in Begleitung eines Einheimischen auf uns zu. Die beiden blieben vor unserer Gruppe stehen. Alle außer mir senkten den Blick. Ich konnte nicht anders. Ich starrte den Wachmann an, der ausgeruht, sauber und satt wirkte. Ich sah, wie Mutter in ihre Hand hustete und heimlich den Lippenstift abzuwischen versuchte. Der schmuddelige Einheimische zeigte auf sie und sagte etwas zu dem Wachmann, der den Kopf schüttelte und einen Arm über unsere Gruppe schwenkte. Der Einheimische zeigte wieder auf Mutter und vollführte eine obszöne Geste. Der Wachmann lachte und murmelte etwas. Der schmuddelige Kerl musterte unsere Gruppe. Schließlich zeigte er auf Andrius.
    Der Wachmann ging zu Andrius und bellte einen Befehl. Andrius rührte sich nicht. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
    »Er ist gestört – lassen Sie ihn«, sagte Frau Arvydas. »Bitte erkläre es ihnen, Elena.«
    Mutter sagte etwas auf Russisch. Der Wachmann packte Andrius bei den Haaren und riss seinen Kopf hoch. Andrius starrte ins Leere. Ona wiegte sich weinend hin und her. Herr Stalas stöhnte und grummelte. Der Einheimische winkte angeekelt ab und entfernte sich von unserer Gruppe.
    Andere wurden gekauft und auf Wagen geladen. Sie fuhren durch das Tal und verschwanden durch einen Einschnitt zwischen den Hügeln. Während wir das letzte Wasser tranken und den Brei aßen, erörterten wir, ob wir uns kaufen lassen sollten oder nicht.
    Jemand sprach von Flucht. Das wurde kurz diskutiert, aber dann krachte ein Schuss, und vorn am Zug wurde geschrien. Das kleine Mädchen mit der Puppe begann zu weinen.
    »Frag die Wachen, wohin die Leute gebracht werden, Elena«, sagte Frau Rimas.
    Mutter versuchte vergeblich, die Wachmänner anzusprechen. Mir war alles egal. Das Gras duftete wie frischer

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