Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
verließ mein Zimmer.
»Was ist denn, Mutter?«
»Du hast gehört, was dein Vater gesagt hat, Lina. Geh ins Wohnzimmer.«
Wir traten in den Flur.
»Ab ins Bett, Jonas«, sagte Mutter, ohne auch nur einen Blick zum Zimmer meines Bruders zu werfen. Ich drehte mich um. Jonas sah mit großen Augen aus der Schlafzimmertür.
Papa schäumte. Er war wütend auf mich. Was hatte ich getan? Ich betrat das Wohnzimmer.
»Verschwendest du dein Talent mit solchen Sachen?« Er warf mir ein Stück Papier ins Gesicht.
»Das war doch nur ein Witz, Papa«, erklärte ich.
»Du hältst es für einen Witz. Und wenn der Kreml das anders sieht? Die Zeichnungen sind eindeutige Porträts, verdammt noch mal!«
Ich betrachtete meine Zeichnung. Ja, die Ähnlichkeit war vollkommen. Man erkannte Stalin sogar im Clownskostüm. Die Zeichnung zeigte ihn in unserem Wohnzimmer, wo er von Papa und seinen am Tisch sitzenden Freunden mit Papierflugzeugen beworfen wurde. Die Männer lachten. Die Flugzeuge trafen Stalin am Kopf, der ein trauriges Gesicht zog. Papa und Dr. Seltzer waren klar zu erkennen. Das Kinn des Journalisten war mir nicht ganz so gut gelungen.
»Gibt es noch mehr?«, fragte mein Vater und entriss mir das Blatt.
»Es war doch nur Spaß«, sagte eine leise Stimme. Jonas stand in seinem Pyjama im Flur. »Sei nicht wütend, Papa.«
»Hast du etwa auch mitgemacht?«, brüllte mein Vater.
»Oh, Jonas«, sagte Mutter.
»Nein, hat er nicht! Ich habe es allein gezeichnet. Ich habe ihm die Bilder nur gezeigt, weil ich sie komisch fand.«
»Hast du sie noch jemandem gezeigt?«, fragte Papa.
»Nein. Ich habe sie ja erst heute Nachmittag gezeichnet«, entgegnete ich.
»Die Sache ist ernst, Lina«, sagte Mutter. »Wenn die Sowjets deine Zeichnungen in die Finger bekommen, könnten sie dich verhaften.«
»Wie soll das gehen? Ich habe sie doch weggeworfen«, wandte ich ein.
»Und wenn jemand sie im Müll gefunden hätte? Ein Wind hätte Stalin diese Zeichnung vor die Füße wehen können«, sagte Papa. »Du hast gezeichnet, wie dein Vater und seine Freunde den Führer der Sowjetunion veralbern! Gibt es weitere Bilder?«, fragte er.
»Nein. Das ist das einzige.«
Papa zerriss meine Zeichnung und warf sie ins Feuer.
Andrius starrte mich immer noch an. »Willst du das wirklich?«, fragte er schließlich. »Die Sowjets wegpusten?«
Ich drehte mich zu ihm um. »Ich will einfach nur nach Hause. Ich möchte meinen Vater wiedersehen«, sagte ich.
Er nickte.
25
Abends waren die meisten NKWD-Leute mit dem Zug weggefahren. Fünf Bewaffnete und zwei Lastwagen hatten sie bei unseren beiden Gruppen zurückgelassen. Fast fünfundsiebzig Litauer und nur fünf Russen, aber niemand wagte, sich zu rühren. Vermutlich waren die meisten zu müde und zu schwach. Das Gras war ein weiches Bett, der viele Platz ein Luxus. Ich prägte mir die wichtigsten Landmarken ein, um sie später für Papa zu zeichnen.
Die NKWD-Leute entfachten ein Feuer und bereiteten ihr Essen zu, während wir dasaßen und ins Leere starrten. Sie hatten amerikanische Konserven, Brot und Kaffee. Nach dem Essen tranken sie Wodka und rauchten. Sie wurden immer lauter.
»Was reden sie?«, fragte ich Mutter.
»Sie erzählen von ihrer Heimat. Von ihren Familien und Freunden«, antwortete sie.
Ich glaubte ihr nicht. Ich lauschte den russischen Worten. Tonfall und grölendes Gelächter klangen nicht nach Gesprächen über Familien. Dann wurde Ona wieder laut. Sie sang immer wieder »Nein, nein, nein, nein«. Ein NKWD-Mann stand auf und brüllte etwas, gestikulierte in Richtung unserer Gruppe.
»Ich versuche, sie zu beruhigen«, sagte Mutter und stand auf. »Sonst werden die Wachleute noch wütend.« Jonas schlief schon. Ich deckte ihn mit meinem blauen Regenmantel zu und strich ihm die Haare aus den Augen. Der Glatzkopf schnarchte. Der Grauhaarige zog seine Uhr auf. Andrius saß am Rand der Gruppe, ein Knie vor die Brust gezogen, und behielt die Wachen im Auge.
Er hatte ein ausgeprägtes Profil und einen kantigen Kiefer. Eine Strähne seines wirren Haares fiel auf seine Wange. Ich hätte einen weichen Bleistift gebraucht, um ihn zu zeichnen. Als er meinen Blick bemerkte, wandte ich mich rasch ab.
»Heh«, flüsterte er mir zu.
Ich sah auf. Irgendetwas rollte durch das Gras und stieß gegen mein Bein. Es war der glitzernde Stein, den er an dem Tag gefunden hatte, als er vom Zug gesprungen war.
»Das Kronjuwel der Waggonprinzessin«, flüsterte ich lächelnd.
Er nickte lachend.
Ich wollte den Stein
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