Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Stalin etwas für sich beanspruchen, das ihm nicht gehörte, etwas, für das eine Bauernfamilie ihr ganzes Leben gearbeitet hatte? »Das ist Kommunismus, Lina«, hatte Papa erwidert.
Die Frau schrie Mutter an, fuchtelte mit dem Zeigefinger und schüttelte den Kopf. Dann verließ sie die Hütte.
Wir befanden uns in einer Kolchose, einem bäuerlichen Gemeinschaftsbetrieb, und ich sollte Rüben anbauen.
Ich verabscheute Rüben.
Landkarten und Schlangen
29
Die Hütte war ungefähr zwölf Quadratmeter groß. In einer Ecke stand ein kleiner Ofen, der von einigen Töpfen und dreckigen Blechdosen umringt war. Daneben lag eine Strohmatratze auf dem Fußboden. Es gab kein Kopfkissen, sondern nur ein bunt zusammengenähtes, fadenscheiniges Oberbett.
»Hier gibt es nichts«, sagte ich. »Weder Spüle noch Tisch oder Schrank. Ist das ihr Schlafplatz?«, fragte ich. »Und wo schlafen wir? Wo ist das Bad?«
»Wo bekommen wir etwas zu essen?«, wollte Jonas wissen.
»Keine Ahnung«, antwortete Mutter, die in die Töpfe schaute. »Hier ist es ziemlich schmutzig. Aber ein kleiner Hausputz wird das rasch ändern.«
»Ich bin froh, dass wir nicht mehr im Zug sind«, sagte Jonas.
Der junge blonde NKWD-Mann stürmte herein. »Elena Vilkas«, sagte er.
Mutter sah ihn an.
»Elena Vilkas!«, wiederholte er lauter.
»Ja, das bin ich«, sagte Mutter. Sie diskutierten auf Russisch, dann stritten sie.
»Was ist denn, Mutter?«, fragte Jonas.
Mutter nahm uns in die Arme. »Keine Sorge, mein Schatz. Wir bleiben zusammen.«
»Dawai!«, brüllte der Wachmann und scheuchte uns aus der Hütte.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich.
»Der Kommandant will mich sprechen. Ich habe gesagt, dass wir nur gemeinsam kommen«, antwortete Mutter.
Der Kommandant. Mein Magen krampfte sich zusammen. »Ich bleibe lieber hier«, sagte ich.
»Nein, wir müssen zusammenbleiben«, sagte Jonas.
Wir folgten dem blonden Wachmann durch das Barackendorf bis zu einer Blockhütte, die in einem viel besseren Zustand als die übrigen Gebäude war. Vor der Tür standen rauchende NKWD-Männer, die Mutter lüstern angafften, während sie das Gebäude betrachtete.
»Bleibt hier«, sagte sie. »Ich bin gleich wieder da.«
»Nein, wir kommen mit«, wandte Jonas ein.
Mutter sah zuerst die gierig glotzenden Männer und dann mich an.
Ein Mann löste sich von der Tür und kam zu uns. »Dawai!«, brüllte er und zog Mutter am Ellbogen zur Blockhütte.
»Ich bin gleich zurück!«, rief Mutter über die Schulter, bevor sie durch die Tür verschwand.
»Ich bin gleich zurück«, sagte Mutter.
»Wie findest du es denn?«, fragte ich.
»Du siehst wunderbar aus«, antwortete Mutter und trat zurück, um das Kleid bewundern zu können.
»Gut«, sagte der Schneider und steckte ein paar Nadeln wieder in sein kleines Seidenkissen. »Fertig, Lina. Du kannst dich jetzt umziehen, aber pass auf, das Kleid ist noch nicht genäht, sondern wird nur von Nadeln gehalten.«
»Wir treffen uns draußen vor der Tür«, sagte Mutter über die Schulter, bevor sie ging.
»Deine Mutter hat einen ausgezeichneten Geschmack, was Kleider betrifft«, sagte der Schneider.
Er hatte Recht. Das Kleid war bildschön. Das Hellgrau betonte meine Augen.
Ich zog mich um und ging nach draußen. Mutter war nicht da. Ich ließ den Blick über die Reihe bunter Geschäfte gleiten, konnte sie aber nicht entdecken. Da ging weiter unten in der Straße eine Tür auf, und Mutter trat ins Freie und kam auf mich zu. Ihr blauer Hut passte zum Kleid, das ihre Beine umwehte. Sie hob lächelnd zwei Eiswaffeln, an ihrem Arm hing eine Einkaufstasche.
»Die Männer machen sich einen schönen Tag, und wir tun es ihnen gleich«, sagte Mutter, und ihr roter Lippenstift glänzte. Sie reichte mir ein Eis und ging zu einer Bank. »Setzen wir uns.«
Papa war mit Jonas bei einem Fußballspiel, und Mutter und ich machten einen Einkaufsbummel. Ich leckte am cremigen Vanilleeis und lehnte mich gegen die warme Bank.
»Wie schön, endlich zu sitzen«, seufzte Mutter. Sie sah mich an. »Gut – das Kleid ist fertig. Und was machen wir jetzt?«
»Ich brauche Zeichenkohle«, rief ich ihr in Erinnerung.
»Ah ja«, sagte Mutter. »Zeichenkohle für meine Künstlerin.«
»Wir hätten mitgehen sollen«, sagte Jonas.
Er hatte Recht. Aber ich fürchtete mich vor dem Kommandanten. Jetzt war sie allein bei den Männern, ohne Schutz, und es war meine Schuld. Ich zog Jonas neben das Gebäude, dicht vor ein dreckiges Fenster.
»Bleib hier
Weitere Kostenlose Bücher