Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
hervor, dickflüssig und weinrot. Eines ihrer Beine war unnatürlich abgewinkelt. Sie trug nur einen Schuh.
»Lina«, sagte Andrius.
Ich sah mich benommen nach ihm um.
»Nicht hinschauen«, sagte er.
Ich öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus und drehte mich wieder um. Der junge blonde Wachmann starrte Onas Leiche an.
»Sieh mich an, Lina«, drängte Andrius.
Mutter sank vorn auf der Ladefläche auf die Knie und sah auf Ona hinab. Ich setzte mich neben meinen Bruder.
Der Lastwagen fuhr dröhnend an. Mutter schlug ihre Hände vor das Gesicht. Fräulein Grybas schnalzte kopfschüttelnd mit der Zunge.
Jonas zog meinen Kopf gegen seine Knie und streichelte ihn. »Bitte sag nichts zu den Wachleuten. Du darfst sie nicht reizen, Lina«, flüsterte er.
Wir fuhren davon, und Ona wurde immer kleiner. Sie lag im Dreck, ermordet vom NKWD. Ihre Tochter verweste Hunderte von Kilometern weit weg im Gras. Wie sollte ihre Familie je erfahren, was mit ihr passiert war? Wie sollte man je erfahren, was mit uns geschah? Ich würde bei jeder sich bietenden Gelegenheit notieren und zeichnen, was wir durchlitten. Ich würde den schießenden Kommandanten zeichnen, meine auf Knien liegende Mutter, die ihr Gesicht in den Händen vergrub, und den abfahrenden Lastwagen, dessen Räder Kies auf Onas Leichnam schleuderten.
28
Wir kamen zu einem großen landwirtschaftlichen Betrieb. Hütten, die offenbar nur aus einem Raum bestanden, bildeten ein ärmliches Dorf. Die warme Sonne schien eine Ausnahme zu sein, denn die windschiefen Dächer deuteten auf extreme Wetterverhältnisse hin.
Auf Befehl der Wachen mussten wir vom Lastwagen steigen. Andrius stand mit gesenktem Kopf dicht neben seiner Mutter. Man führte uns zu Hütten, von denen ich zunächst glaubte, dass sie für uns bestimmt waren, doch als Fräulein Grybas und Frau Rimas eine betraten, rannte eine Frau ins Freie und begann, auf die Wachmänner einzureden.
»In den Hütten wohnen Leute«, flüsterte Jonas.
»Ja, wir werden sie wohl teilen müssen«, sagte Mutter und zog uns an sich.
Zwei Frauen, die große Wassereimer trugen, gingen an uns vorbei. Sie schienen nicht aus unserem Zug zu stammen.
Man teilte uns eine schäbige Hütte am hinteren Rand der Siedlung zu. Das graue Holz war über die Jahre von Wind und Schnee abgeschliffen worden. Die Tür hatte Risse und hing schief im Rahmen. Ein Sturmwind würde diese Hütte in den Himmel schleudern und in tausend Stücke reißen. Der blonde Wachmann zog die Tür auf, rief etwas auf Russisch und stieß uns hinein. Eine gedrungene, in mehrere Schichten Kleidung gehüllte Frau mit asiatischen Zügen rannte zur Tür und schrie uns an. Ihre Haare ragten wie schwarzes Stroh unter dem Kopftuch hervor. Ihr wettergegerbtes Gesicht mit den vielen Falten sah wie eine Landkarte aus.
»Was sagt sie?«, fragte Jonas.
»Dass sie keinen Platz für dreckige Verbrecher hat«, antwortete Mutter.
»Wir sind keine Verbrecher«, sagte ich.
Die Frau zeterte weiter, reckte die Arme und spuckte auf den Fußboden.
»Ist sie verrückt?«, fragte Jonas.
»Sie hat selbst nicht genug zu essen und will ihre Hütte nicht mit Verbrechern wie uns teilen.« Mutter kehrte der Frau den Rücken. »Wir legen unsere Sachen einfach in die Ecke. Stell deinen Koffer ab, Jonas.«
Die Frau zog mich an den Haaren zur Tür.
Mutter brüllte die Frau auf Russisch an. Sie riss ihre Hand aus meinem Haar, schlug sie und stieß sie weg. Jonas trat ihr gegen das Schienbein. Die Frau aus dem Volk der Altaier starrte uns aus dunklen Schlitzaugen an. Mutter hielt ihrem Blick stand. Dann lachte die Frau laut auf. Sie stellte eine Frage.
»Wir sind Litauer«, antwortete Mutter erst auf Litauisch, dann auf Russisch. Die Frau brabbelte etwas.
»Was sagt sie?«, fragte ich.
»Sie meint, dass reizbare Menschen gute Arbeiter sind und dass wir ihr Miete zahlen müssen.« Mutter fragte die Frau weiter aus.
»Miete? Wofür? Um in diesem Loch mitten im Nirgendwo hausen zu dürfen?«, sagte ich.
»Wir sind im Altai«, erwiderte Mutter. »Sie bauen hier Rüben und Kartoffeln an.«
»Dann gibt es Kartoffeln zu essen?«, fragte Jonas.
»Die Nahrung ist rationiert. Sie meint, dass der NKWD den Betrieb und die Arbeiter beaufsichtigt«, sagte Mutter.
Papa hatte einmal erzählt, dass Stalin Land, Werkzeuge und Vieh beschlagnahmte und den Bauern nicht nur vorschrieb, was sie anzubauen hatten, sondern auch, wie viel Geld sie dafür bekamen. Ich fand das lächerlich. Wie konnte
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