Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
stehen, damit der blonde Wachmann dich sehen kann«, sagte ich.
»Was hast du vor?«
»Ich will durch das Fenster nach Mutter schauen.«
»Nein, Lina!«
»Bleib hier«, schärfte ich ihm ein.
Der blonde Wachmann säuberte seine Fingernägel mit einem Taschenmesser. Er hatte sich als Einziger abgewandt, während wir uns ausgezogen hatten. Ich schlich zum Fenster und stellte mich auf Zehenspitzen. Mutter saß auf einem Stuhl und starrte in ihren Schoß. Der Kommandant saß vor ihr auf einer Tischecke. Er blätterte in einer Akte, während er mit Mutter sprach. Dann schloss er die Akte und legte sie auf seinen Oberschenkel. Ich warf einen Blick zum Wachmann und reckte mich noch ein bisschen mehr, um besser sehen zu können.
»Lass das, Lina. Andrius meint, dass sie uns erschießen, wenn wir Ärger machen«, flüsterte Jonas.
»Ich mache keinen Ärger«, erwiderte ich und kehrte zu ihm zurück. »Ich wollte nur nachschauen, ob auch alles in Ordnung ist.«
»Denk daran, was Ona passiert ist«, sagte Jonas.
Ja, was war mit Ona? War sie jetzt im Himmel bei ihrer Tochter und bei unserer Oma? Oder schwebte sie auf der Suche nach ihrem Mann zwischen den Zügen und den unzähligen Litauern umher?
Das hätte ich gern Papa gefragt. Er lauschte meinen Fragen immer aufmerksam, nickte dann und dachte kurz nach, bevor er eine Antwort gab. Wer würde meine Fragen jetzt beantworten?
Trotz des bewölkten Himmels war es warm. In der Ferne, jenseits des Dorfes, ragten Kiefern und Fichten zwischen den Feldern auf. Ich sah mich um und prägte mir die Landschaft ein, um sie für Papa zeichnen zu können. Ich fragte mich, wo Andrius und seine Mutter waren.
Manche Hütten waren in besserem Zustand als unsere. Eine war von einem Lattenzaun umgeben, eine andere hatte einen kleinen Garten. Ich würde sie zeichnen – sie waren trist und schäbig und fast farblos.
Da trat Mutter aus der Tür. Der Kommandant lehnte sich gegen den Türrahmen und sah ihr nach. Mutter biss die Zähne zusammen. Sie nickte uns beim Näherkommen zu. Der Kommandant rief ihr etwas nach. Sie überhörte ihn und nahm uns bei der Hand.
»Führen Sie uns zu unserer Hütte«, sagte sie zu dem blonden Wachmann. Er rührte sich nicht vom Fleck.
»Ich weiß den Weg«, sagte Jonas und ging los. »Folgt mir.«
»Ist alles gut?«, fragte ich Mutter unterwegs.
»Ja, alles ist gut«, antwortete sie leise.
Mir fiel eine Last von den Schultern. »Was wollte er von dir?«
»Nicht hier«, sagte sie.
30
Sie wollen mit mir zusammenarbeiten«, erzählte Mutter, sobald wir wieder in der Hütte waren.
»Zusammenarbeiten? Wobei?«, fragte ich.
»Besser gesagt, ich soll für sie arbeiten«, antwortete sie. »Dokumente übersetzen und mit anderen Litauern sprechen.«
Ich dachte an die Akte, die der Kommandant studiert hatte.
»Und was bekommst du dafür?«, fragte Jonas.
»Ich werde nicht für sie übersetzen oder dolmetschen«, sagte Mutter. »Ich habe mich geweigert. Sie haben mich auch aufgefordert, die Leute zu belauschen und dem Kommandanten Bericht darüber zu erstatten.«
»Du sollst Leute bespitzeln?«, fragte Jonas.
»Ganz recht«, sagte Mutter.
»Sie verlangen von dir, alle auszuhorchen und Bericht über sie zu erstatten?«, fragte ich.
Mutter nickte. »Man hat mir eine bevorzugte Behandlung versprochen, wenn ich einwillige.«
»Schweine!«, schrie ich.
»Lina! Leiser!«, sagte Mutter.
»Glauben sie wirklich, dass du ihnen hilfst, nach all dem, was sie uns angetan haben?«, fragte ich.
»Aber vielleicht brauchst du eine bevorzugte Behandlung, Mutter«, sagte Jonas besorgt.
»Das stimmt sowieso nicht«, fauchte ich. »Diese Leute sind Lügner, Jonas. Alle. Sie würden Mutter nicht einmal den kleinen Finger reichen.«
»Ich traue ihnen nicht, Jonas«, sagte Mutter und streichelte die Wange meines Bruders. »Stalin hat den NKWD darauf gedrillt, dass Litauer Feinde sind. Der Kommandant und die Wachleute verachten uns. Verstehst du?«
»Das hat Andrius schon erzählt«, erwiderte Jonas.
»Andrius ist sehr klug. Wir dürfen nur reden, wenn wir unter uns sind«, sagte Mutter. Dann wandte sie sich an mich und fügte hinzu: »Und bitte achte darauf, was du sagst oder zeichnest, Lina.«
Wir kramten in unseren Koffern und sortierten alles aus, was wir im Notfall verkaufen konnten. Ich untersuchte meine Ausgabe der Pickwickier . Die Seiten sechs bis elf fehlten, und Seite zwölf hatte einen Dreckfleck.
Ich holte das goldgerahmte Bild aus dem Koffer und
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