Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
»Schwein«, und natürlich faschiest , »Faschist«. Fräulein Grybas und die mürrische Frau standen schon da. Frau Rimas winkte Mutter. Ich sah mich nach Andrius und Frau Arvydas um, konnte sie aber ebenso wenig entdecken wie den Glatzkopf.
Der Kommandant schritt vor der Reihe auf und ab. Er kaute auf seinem Zahnstocher herum, während er uns in Augenschein nahm, und sagte dann etwas zu den Wachmännern.
»Was will er von uns, Elena?«, fragte Frau Rimas.
»Er verteilt die Arbeiten«, antwortete Mutter.
Der Kommandant ging zu Mutter und brüllte sie an. Dann zog er sie, Frau Rimas und die mürrische Frau aus der Reihe. Der junge blonde Wachmann stieß mich zu Mutter. Danach wurden die anderen eingeteilt. Jonas war mit zwei älteren Frauen in einer Gruppe.
»Dawai!« Der Wachmann gab Mutter ein Segeltuchbündel und führte uns weg.
»Wir treffen uns in der Hütte!«, rief Mutter Jonas zu. Aber wie sollte das funktionieren? Mutter und ich kannten ja nicht einmal den Rückweg von der Blockhütte des NKWD. Jonas hatte uns geführt. Wir würden uns verirren.
Mir war schlecht vor Hunger. Meine Beine waren bleiern. Mutter und Frau Rimas unterhielten sich hinter dem Rücken des Wachmanns flüsternd auf Litauisch. Nach einigen Kilometern Fußmarsch erreichten wir eine Waldlichtung. Der Wachmann entriss Mutter das Segeltuchbündel und warf es auf den Boden. Er brüllte einen Befehl.
»Er will, dass wir graben«, sagte Mutter.
»Graben? Wo denn?«, fragte Frau Rimas.
»Wahrscheinlich hier«, antwortete Mutter. »Wenn wir essen wollen, müssen wir graben, sagt er. Unsere Ration wird nach unserer Arbeitsleistung bemessen.«
»Und womit sollen wir graben?«, fragte ich.
Mutter fragte den blonden Wachmann. Er trat gegen das Bündel. Mutter faltete es auseinander, und es fielen mehrere rostige Handschaufeln heraus, wie man sie für Blumenbeete benutzt. Die Griffe fehlten.
Mutter sagte etwas zu dem Wachmann, worauf er mit einem zornigen »Dawai!« reagierte und uns die Schaufeln gegen die Schienbeine trat.
»Weg da«, sagte die mürrische Frau. »Ich fange an, denn wir müssen etwas essen, meine Mädchen und ich.« Sie fiel auf die Knie und begann, mit der kleinen Schaufel in die Erde zu hacken. Wir taten es ihr gleich. Der Wachmann saß rauchend unter einem Baum und sah zu.
»Wo sind die Kartoffeln und Rüben?«, fragte ich Mutter.
»Sie wollen mich offenbar bestrafen«, sagte sie.
»Wofür denn?«, fragte Frau Rimas. Mutter legte den Mund an ihr Ohr und erzählte vom Angebot des Kommandanten.
»Du hättest eine Vorzugsbehandlung bekommen«, sagte Frau Rimas. »Und wahrscheinlich mehr zu essen.«
»Und Schuldgefühle. Sind die Extraessen wert?«, erwiderte Mutter. »Überleg nur, was man in dem Büro von mir verlangen und was den anderen passieren könnte. Damit belaste ich mich nicht. Ich werde mich durchbeißen wie alle anderen.«
»Eine Frau hat erzählt, dass der nächste Ort fünf Kilometer entfernt ist. Dort gibt es einen Laden, eine Post und eine Schule«, sagte Frau Rimas.
»Vielleicht können wir hingehen«, sagte Mutter, »und Briefe abschicken. Vielleicht weiß dort jemand etwas über unsere Männer.«
»Vorsicht, Elena. Briefe könnten die Daheimgebliebenen in Gefahr bringen«, sagte Frau Rimas. »Du darfst auf gar keinen Fall etwas aufschreiben. Niemals.«
Ich senkte den Blick. Ich hatte alles aufgeschrieben und schon mehrere Seiten mit Zeichnungen und Schilderungen gefüllt.
»Nein«, flüsterte Mutter. Sie sah zur mürrischen Frau, die auf die Erde einhackte, und beugte sich zu Frau Rimas. »Ich habe einen Kontakt.«
Was meinte Mutter mit »Kontakt«? Besser gesagt, wen?
Ich dachte an den Krieg. Die Deutschen hatten Litauen besetzt. Was hatte Hitler vor? Ich fragte mich, was mit unserem Haus und all den Sachen war, die wir zurückgelassen hatten. Und warum buddelten wir dieses blöde Loch?
»Immerhin spricht deine Mitbewohnerin mit dir«, sagte Mutter. »Wir wohnen bei einer alten Hexe, die Lina bei den Haaren gepackt hat.«
»Die Dorfbewohner sind nicht gerade froh über uns«, sagte Frau Rimas. »Aber sie wussten, dass wir kommen. Angeblich haben vor ein paar Tagen mehrere Lastwagen Esten in einem Nachbardorf abgesetzt.«
Mutter ließ die Schaufel sinken. »Esten?«
»Ja«, flüsterte Frau Rimas. »Man hat auch Esten und Letten deportiert.«
»Das hatte ich befürchtet«, seufzte Mutter. »Ein Wahnsinn. Wie viele Menschen werden sie wohl deportieren?«
»Hunderttausende, Elena«,
Weitere Kostenlose Bücher