Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
betrachtete das Gesicht meines Vaters. Wo mochte mein Taschentuch jetzt sein? Ich musste noch mehr Botschaften schicken.
»Kostas«, sagte Mutter, die über meine Schulter blickte. Ich gab ihr das Bild. Sie fuhr mit dem Zeigefinger liebevoll über das Gesicht meines Vaters und das ihrer Mutter. »Wie schön, dass du es mitgenommen hast. Du ahnst ja nicht, wie sehr es mich aufmuntert. Bewahre es gut auf.«
Ich schlug den Schreibblock auf, den ich eingepackt hatte. 14. Juni 1941. Liebe Joana , stand oben auf der ersten Seite wie eine Überschrift ohne Geschichte. Das hatte ich vor fast zwei Monaten geschrieben, am Abend unserer Deportation. Wo mochten Joana und unsere übrigen Verwandten sein? Würde ich diesen Brief je zu Ende schreiben? Würde ich ihr erzählen, dass die Sowjets uns in Viehwaggons getrieben und sechs Wochen gefangen gehalten hatten? Dass wir kaum etwas zu essen und zu trinken bekommen hatten? Würde ich erwähnen, dass Mutter als Spitzel für die Russen arbeiten sollte? Dass in unserem Waggon ein Säugling gestorben war und dass der NKWD Ona mit einem Kopfschuss ermordet hatte? Ich hatte Mutters Stimme im Ohr, die mir einschärfte, vorsichtig zu sein, doch meine Hand bewegte sich wie von selbst.
31
Die zurückgekehrte Altaierin machte sich in der Hütte zu schaffen. Sie stellte einen Topf auf den Ofen. Wir sahen zu, wie sie zwei Kartoffeln kochte und an einem Brotkanten nagte.
»Bekommen wir heute Abend auch Kartoffeln, Mutter?«, fragte Jonas.
Auf unsere Frage nach Essen hatte man erwidert, dass wir es uns erst durch Arbeit verdienen müssten.
»Würde man dir Essen geben, wenn du für den NKWD arbeitest?«, fragte Jonas.
»Nein, mein Schatz«, antwortete Mutter. »Sie würden nur leere Versprechungen machen, und das wäre schlimmer als ein leerer Magen.«
Mutter bezahlte die Frau für eine Kartoffel und gab ihr dann noch einmal Geld, um sie kochen zu dürfen. Es war lächerlich.
»Wie viel Geld haben wir noch?«, fragte ich.
»Fast nichts mehr«, antwortete sie.
Wir schmiegten uns auf dem nackten Fußboden an Mutter und versuchten zu schlafen. Die Bäuerin schnarchte und schmatzte auf ihrem Strohlager. Ihr saurer Atem hing im kleinen Raum. War sie hier in Sibirien geboren worden? Hatte sie je ein anderes Leben gekannt? Ich starrte in das Dunkel und versuchte, in Gedanken etwas auf der schwarzen Leinwand zu malen.
»Mach ihn auf, Schatz!«
»Ich kann nicht. Ich bin zu aufgeregt«, sagte ich zu Mutter.
»Sie wollte auf dich warten«, sagte Mutter zu Papa. »Sie hantiert seit Stunden mit diesem Umschlag.«
»Mach schon, Lina«, drängelte Jonas.
»Und wenn es eine Absage ist?«, fragte ich, den Brief in meinen feuchten Fingern.
»Dann klappt es im nächsten Jahr«, sagte Mutter.
»Solange der Umschlag zu ist, weißt du nichts«, sagte Papa.
»Mach ihn auf!«, rief Jonas und hielt mir einen Brieföffner hin.
Ich schob die silberne Klinge unter die Lasche hinten auf dem Briefumschlag. Ich hatte an kaum etwas anderes denken können, seit Frau Pranas meine Bewerbung abgeschickt hatte. Ich würde mit den besten Künstlern Europas studieren. Was für eine Chance! Ich schnitt den Brief auf, zog ein zusammengefaltetes Schreiben heraus und überflog den Inhalt.
»Sehr geehrtes Fräulein Vilkas,
wir danken Ihnen für Ihre Bewerbung für unseren im Sommer stattfindenden Kunstkursus. Ihre Proben haben uns sehr beeindruckt. Daher bieten wir Ihnen mit größtem Vergnügen einen Platz in unserem …«
»Ja! Sie haben mich genommen!«, schrie ich.
»Ich wusste es!«, sagte Papa.
»Herzlichen Glückwunsch, Lina«, sagte Jonas und legte einen Arm um mich.
»Ich kann es kaum abwarten, Joana davon zu erzählen«, sagte ich.
»Wie wunderbar, mein Schatz!«, sagte Mutter. »Das muss gefeiert werden.«
»Es gibt eine Torte«, sagte Jonas.
»Ich war mir sicher, dass es einen Grund zum Feiern geben würde«, sagte Mutter und zwinkerte mir zu.
Papa strahlte. »Du bist mit einer besonderen Gabe gesegnet, mein Schatz«, sagte er und ergriff meine Hände. »Du hast eine große Zukunft vor dir, Lina.«
Irgendetwas raschelte, und ich drehte mich um. Die alte Frau schlurfte in die Ecke und pinkelte in eine Blechdose.
32
Es war noch dunkel, als wir die NKWD-Leute brüllen hörten. Wir mussten die Hütten verlassen und uns in einer Reihe aufstellen. Wir zwängten uns hastig zwischen die anderen. Mein russischer Wortschatz wuchs. Außer dawai kannte ich inzwischen so wichtige Wörter wie njet , »nein«, swienja ,
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