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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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sechzig Pfund schwere Kornsäcke auf dem Rücken durch den Schnee schleppen. Frau Rimas zeigte mir, dass man ein bisschen für sich abzweigen konnte, wenn man das Sackgewebe mit einer Nadel dehnte. Wir hatten die Kunst des Stibitzens im Handumdrehen perfektioniert. Jonas schlich jede Nacht nach draußen, um Essensreste aus den Mülltonnen des NKWD zu klauben. Käfer und Maden schreckten niemanden ab. Wir schnippten ein paar Mal mit dem Finger dagegen und schoben die Sachen in den Mund. Manchmal kehrte Jonas mit Essenspäckchen zurück, die Andrius und Frau Arvydas im Abfall versteckt hatten. Aber wir lebten vor allem von Dreck und Müll. In gewisser Weise waren wir zu Aasfressern geworden.

47
    Wir bestachen die mürrische Frau weiter, damit sie nach unserer Post schaute, wenn sie in das Dorf ging. Doch zwei Monate lang kam nichts dabei heraus. Wir schlotterten in unseren Hütten, und das Einzige, was uns wärmte, war die Hoffnung auf einen Brief, der Neuigkeiten aus der Heimat enthielt. Die Temperatur fiel weit unter null. Jonas schlief neben dem kleinen Ofen und stand alle paar Stunden auf, um Holz nachzulegen. Meine Zehen waren taub, die Haut riss auf.
    Zuerst bekam Frau Rimas einen Brief. Er stammte von einer entfernten Cousine und erreichte sie Mitte November. Die Nachricht vom Eintreffen eines Briefes verbreitete sich in Windeseile im Lager. Gut zwanzig Menschen drängten sich in ihrer Hütte, um Neuigkeiten aus Litauen zu hören, aber sie hatte ihre Essensration abholen wollen und war noch nicht zurück. Wir warteten. Andrius kam auch. Er zwängte sich neben mich. Er zog gestohlenes Mürbegebäck aus der Tasche und verteilte es an alle Anwesenden. Wir versuchten, leise zu reden, aber niemand in der dicht gedrängten Menge konnte seine Aufregung unterdrücken.
    Als ich mich umdrehte, stieß ich Andrius aus Versehen mit dem Ellbogen. »Entschuldige«, sagte ich. Er nickte.
    »Wie geht es dir?«, fragte ich.
    »Gut«, antwortete er. Der Glatzkopf kam in die Hütte und beschwerte sich sofort darüber, dass er keinen Platz hatte. Die Leute schoben von hinten, und ich wurde gegen Andrius’ Mantel gedrückt.
    »Wie geht es deiner Mutter?«, fragte ich und sah zu ihm auf.
    »So gut es eben geht«, erwiderte er.
    »Für welche Arbeit haben sie dich eingeteilt?« Mein Kinn lag fast auf seiner Brust.
    »Ich muss Bäume fällen im Wald.« Er verlagerte sein Gewicht, sah auf mich herab. »Und du?«, fragte er. Ich spürte seinen Atem oben auf meinem Haar.
    »Getreidesäcke schleppen«, antwortete ich. Er nickte.
    Man reichte den Brief herum. Einige Menschen küssten ihn. Andrius fuhr mit einem Finger über die litauische Briefmarke und den Poststempel.
    »Hast du jemandem geschrieben?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht, ob wir dadurch andere Leute in Gefahr bringen«, sagte er.
    Da kam Frau Rimas. Man versuchte, sie durchzulassen, aber es war zu voll. Ich wurde wieder gegen Andrius gestoßen. Er hielt mich fest, damit die Leute nicht umfielen wie eine Reihe von Dominosteinen. Sobald wir das Gleichgewicht wiedergefunden hatten, ließ er mich los.
    Frau Rimas sprach ein Gebet, bevor sie den Umschlag öffnete. Einige Zeilen des Briefes waren wie erwartet mit schwarzer Tinte unkenntlich gemacht worden. Aber man konnte noch genug lesen.
    »Ich habe zwei Briefe von unserem Freund aus Jonava erhalten« , las Frau Rimas vor. »Das muss mein Mann sein«, rief sie. »Jonava ist sein Geburtsort. Er lebt!« Die Frauen fielen einander in die Arme.
    »Weiterlesen!«, schrie der Glatzkopf.
    »Angeblich hat er beschlossen, mit ein paar Freunden in ein Sommerlager zu fahren« , fuhr Frau Rimas fort. »Er ist ganz begeistert. So wie es auch im 102. Psalm geschrieben steht.«
    »Holt eine Bibel. Schlagt den Psalm nach«, sagte Fräulein Grybas. »Das ist eine versteckte Nachricht.«
    Wir halfen Frau Rimas beim Entziffern des restlichen Briefes. Jemand meinte scherzhaft, eine Menschenmenge sei wärmer als ein Ofen. Ich sah verstohlen zu Andrius. Er wirkte kräftig, sein Blick fest. Offenbar konnte er sich ab und zu rasieren. Seine Haut war so wettergegerbt wie die aller anderen, aber seine Lippen waren nicht so schmal und rissig wie die der NKWD-Leute. Sein braunes, welliges Haar war sauber, verglichen mit meinem. Als er mich ansah, schaute ich weg. Ich mochte gar nicht daran denken, was er in meinen Haaren entdeckte, denn ich war entsetzlich dreckig.
    Jonas kehrte mit Mutters Bibel zurück.
    »Schnell!«, sagte

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