Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
über die Wange mit der länglichen Wunde schwang. Ich hielt inne, sah über die Schulter, weil ich sichergehen wollte, dass ich allein war, und zeichnete die von Tränen aufgelöste Schminke rund um ihre Augen. In ihre feuchten Augen zeichnete ich das Spiegelbild des Kommandanten, der mit geballten Fäusten vor ihr stand. Als ich fertig war, atmete ich tief aus und lockerte die Finger.
Dann kehrte ich in die Hütte zurück und versteckte Stift und Zeichnung im Koffer. Jonas hockte auf dem Fußboden und wippte nervös mit einem Bein. Uljuschka schnarchte auf ihrem Strohlager.
»Wo ist Mutter?«, fragte ich.
»Die mürrische Frau war heute im Dorf«, antwortete Jonas. »Mutter wollte ihr entgegengehen.«
»Es ist schon spät«, sagte ich. In meinem Kopf tickte eine eingebildete Uhr. »Warum ist sie noch nicht zurück?« Ich hatte der mürrischen Frau eine kleine Holzschnitzerei mitgegeben, die sie an Papa weiterleiten sollte.
Als ich vor die Tür ging, kam Mutter auf die Hütte zu. Sie hatte Stiefel und Mäntel im Arm. Bei meinem Anblick lächelte sie wie immer strahlend. Fräulein Grybas eilte herbei.
»Beeilung!«, sagte sie. »Versteckt die Sachen. Der NKWD treibt die Leute zum Unterschreiben zusammen.«
Ich hatte keine Gelegenheit, Mutter von Frau Arvydas zu erzählen. Wir schafften alles in die Hütte des Glatzkopfs. Mutter nahm mich in die Arme. Sie war so dünn, dass ihr Kleid lose am Körper hing, und unter ihrem Gürtel ragten die Hüftknochen hervor.
»Sie hat unsere Briefe abgeschickt!«, flüsterte Mutter strahlend. Ich nickte. Papa war Hunderte von Kilometern weit weg. Hoffentlich war mein Taschentuch schon angekommen.
Keine fünf Minuten später stürmten NKWD-Männer in unsere Hütte und brüllten, wir sollten ins Büro kommen. Jonas und ich gingen neben Mutter.
»Wie war das Kartenzeichnen heute Nachmittag?«, fragte sie.
»Kinderleicht«, sagte ich und dachte an den gestohlenen Stift, den ich in meinem Koffer versteckt hatte.
»Ich hatte Angst um dich«, sagte Mutter. »Aber das war wohl unnötig.« Sie drückte uns an sich. Ja, wovor sollte man hier auch Angst haben, mitten in der Hölle?
»Tadas musste heute zum Direktor«, verkündete Jonas beim Abendessen. Er stopfte sich ein großes Stück Wurst in den kleinen Mund.
»Warum?«, fragte ich.
»Weil er von der Hölle geredet hat«, quetschte Jonas hervor, während der Saft der fetten Wurst über sein Kinn lief.
»Sprich nicht mit vollem Mund, Jonas. Iss nicht so viel auf einmal«, schalt Mutter.
»Entschuldigung«, sagte Jonas, der wie wild kaute. »Es schmeckt so gut.« Er kaute aus. Ich nahm auch ein Stück Wurst. Sie war heiß, und die salzige Pelle schmeckte köstlich.
»Tadas hat einem Mädchen erzählt, die Hölle sei der übelste Ort überhaupt und man sei darin bis in alle Ewigkeit gefangen.«
»Warum redet Tadas ausgerechnet von der Hölle?«, fragte Papa und griff nach dem Gemüse.
»Weil ihm sein Vater erzählt hat, dass wir alle dort landen, wenn Stalin nach Litauen kommt.«
46
Das Dorf heißt Turaciak«, erzählte uns Mutter am nächsten Tag. »Es liegt in den Hügeln und ist nicht sehr groß, aber es gibt ein Postamt und sogar eine kleine Schule.«
»Eine Schule?«, fragte Fräulein Grybas aufgeregt.
Jonas warf mir einen Blick zu. Er hatte schon Anfang September nach der Schule gefragt.
»Du musst ihnen sagen, dass ich Lehrerin bin, Elena«, bat Fräulein Grybas. »Die Kinder im Lager brauchen Unterricht. Wir müssen hier eine Schule einrichten.«
»Hat sie die Briefe abgeschickt?«, fragte der Glatzkopf.
»Ja«, antwortete Mutter. »Und sie hat das Postamt als Absender angegeben.«
»Und wenn wir Post bekommen? Wie sollen wir davon erfahren?«, fragte Frau Rimas.
»Wir müssen weiter Leute bestechen, die unterschrieben haben«, erwiderte Fräulein Grybas und zog eine Grimasse. »Dann schauen sie nach unserer Post, wenn sie ins Dorf gehen.«
»Angeblich ist sie sogar einer Litauerin begegnet, deren Mann in einem Gefängnis bei Tomsk sitzt«, sagte Mutter.
»Oh, Elena, ob unsere Männer in Tomsk sind?«, fragte Frau Rimas und hob die Hände vor die Brust.
»Ihr Mann hat geschrieben, dass er seine Zeit mit vielen litauischen Freunden verbringt«, sagte Mutter lächelnd. »Aber die Briefe waren zum Teil unleserlich und hatten viele Streichungen.«
»Natürlich«, sagte der Glatzkopf. »Man hat sie zensiert. Diese Litauerin sollte besser aufpassen, was sie schreibt. Und Sie auch, wenn Sie nicht durch einen
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