Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
jemand. »Den 102. Psalm.«
»Hier ist er«, sagte Jonas.
»Ruhe! Lasst ihn vorlesen.«
»Herr, höre mein Gebet, und lass mein Schreien zu dir kommen!
Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not, neige deine Ohren zu mir; wenn ich dich anrufe, so erhöre mich bald!
Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch, und meine Gebeine sind verbrannt wie von Feuer.
Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras, dass ich sogar vergesse, mein Brot zu essen.
Mein Gebein klebt an meiner Haut, vor Heulen und Seufzen.«
Irgendjemand jaulte auf. Jonas verstummte. Ich klammerte mich an Andrius’ Arm.
»Weiter«, sagte Frau Rimas und wrang ihre Hände.
Jonas fuhr mit leiser Stimme fort.
»Ich bin wie die Eule in der Einöde, wie das Käuzchen in den Trümmern.
Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.
Täglich schmähen mich meine Feinde, und die mich verspotten, fluchen mit meinem Namen.
Denn ich esse Asche wie Brot und mische meinen Trank mit Tränen.
Meine Tage sind dahin wie ein Schatten, und ich verdorre wie Gras.«
»Er soll aufhören«, flüsterte ich Andrius zu und ließ meine Stirn gegen seinen Mantel sinken. »Bitte.« Aber Jonas hörte nicht auf.
Als er geendet hatte, klapperte plötzlich das Dach im Wind.
»Amen«, sprach Frau Rimas.
»Amen«, wiederholten die anderen.
»Er verhungert«, sagte ich.
»Na und? Wir hungern auch. Ich verdorre auch wie Gras«, sagte der Glatzkopf. »Wir teilen das gleiche Schicksal.«
»Aber er lebt«, sagte Andrius leise.
Ich sah zu ihm auf. Natürlich. Er wäre froh, wenn sein Vater noch am Leben wäre, selbst wenn dieser hungern müsste.
»Ja, Andrius hat Recht«, sagte Mutter. »Er lebt! Und deine Cousine hat ihm bestimmt geschrieben, dass du auch noch am Leben bist!«
Frau Rimas las den Brief ein zweites Mal. Einige Leute verließen die Hütte, auch Andrius. Jonas folgte ihm.
48
Eine Woche später geschah es. Mutter hatte es kommen sehen. Ich nicht.
Fräulein Grybas winkte wie wild und stapfte durch den Schnee auf mich zu. »Schnell, Lina! Es ist was mit Jonas«, flüsterte sie.
Mutter hatte mir gegenüber erwähnt, wie schlecht Jonas aussähe. Aber wir sahen doch alle so aus. Unsere Haut war grau, und wir hatten dunkle Ringe unter den Augen.
Kretzky ließ mich nicht gehen. »Bitte«, flehte ich. »Jonas ist krank.« Konnte er nicht dieses eine Mal helfen?
Er zeigte auf den Stapel Getreidesäcke. Der Kommandant trieb uns brüllend zu Eile an. Ein Schneesturm braute sich zusammen.
Als ich endlich in die Hütte zurückkehrte, war Mutter schon dort. Jonas lag auf ihrem Strohlager. Er war nicht mehr ganz bei Bewusstsein.
»Was hat er?«, fragte ich und kniete mich neben sie.
»Ich weiß nicht.« Sie krempelte Jonas’ Hose hoch. Sein Schienbein war von Flecken übersät. »Vielleicht ein Infekt. Er hat Fieber«, sagte sie und fühlte seine Stirn. »Ist dir nicht aufgefallen, wie müde und reizbar er in letzter Zeit gewesen ist?«
»Nein, das ist mir nicht aufgefallen. Wir sind alle müde und reizbar«, erwiderte ich und betrachtete Jonas. Wie hatte mir das entgehen können? Seine Unterlippe hatte einen wunden Rand, sein Gaumen war lila verfärbt, und er hatte einen roten Ausschlag auf den Händen.
»Hol unsere Brotrationen, Lina. Dein Bruder muss essen, wenn er die Krankheit besiegen will. Und bitte hol Frau Rimas.«
Ich kämpfte mich im Dunkeln durch das Schneegestöber. Der Wind biss mich ins Gesicht. Der NKWD verweigerte mir drei Rationen. Jonas sei bei der Arbeit zusammengebrochen, hieß es, und deshalb stehe ihm kein Brot zu. Ich versuchte zu erklären, dass er krank war, aber man verscheuchte mich.
Weder Frau Rimas noch Fräulein Grybas wussten, um welche Krankheit es sich handelte. Jonas schien immer weiter in die Bewusstlosigkeit abzugleiten.
Dann kam der Glatzkopf. Er baute sich vor Jonas auf und sagte: »Ist es ansteckend? Hat noch jemand Ausschlag? Dieser Junge könnte unser Todesengel sein. Vor ein paar Tagen ist ein Mädchen an der Ruhr gestorben. Vielleicht ist es das. Ich glaube, man hat sie in die Grube geworfen, die ihr ausgehoben habt.«
Mutter setzte ihn vor die Tür.
Uljuschka keifte, wir sollten Jonas nach draußen in den Schnee schaffen. Mutter schrie, sie solle irgendwo anders schlafen, wenn sie befürchte, sich anzustecken. Uljuschka polterte aus der Hütte. Ich saß neben Jonas und drückte ihm ein im Schnee gekühltes Tuch auf die Stirn. Mutter kniete neben ihm, redete ihm sanft zu, küsste seine Hände und sein
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