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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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wir ja. Sie steigen in einen Zug nach Polen, und wir sorgen dafür, dass sie von dort nach Deutschland kommen.«
»Und die Papiere?«, fragte Mutter.
»Es ist für alles gesorgt.«
»Bei Schweden hätte ich ein besseres Gefühl«, wandte Mutter ein.
»Das geht nicht. Nur Deutschland kommt in Frage.«
»Wer fährt nach Deutschland?«, rief ich aus dem Esszimmer.
Schweigen trat ein.
»Lina! Was hast du hier zu suchen?«, fragte Mutter, die aus der Küche kam.
»Ich mache Hausaufgaben.«
»Ein Kollege deines Vaters reist nach Deutschland«, sagte Mutter.
»Ich bin zum Abendessen wieder da.« Papa gab Mutter einen Kuss auf die Wange und eilte aus der Hintertür.
    Gerüchte über die bevorstehende Verlegung flammten im Lager auf wie in Brand gesetztes Benzin. Die Leute rannten in die Hütten und wieder heraus. Man spekulierte wie wild. Jede Minute kursierten neue Geschichten. Eine erzeugte die andere. Irgendjemand behauptete, der NKWD sei verstärkt worden. Ein anderer erzählte, man habe gesehen, wie die NKWD-Männer ihre Gewehre geladen hätten. Niemand kannte die Wahrheit.
    Uljuschka stieß die Hüttentür auf und redete hektisch und aufgeregt auf Jonas ein.
    »Sie sucht Mutter«, sagte Jonas.
    »Weiß sie etwas?«, fragte ich.
    Fräulein Grybas stürzte in unsere Hütte. »Wo ist eure Mutter?«, rief sie.
    »Sie sucht Andrius und Frau Rimas«, antwortete ich.
    »Frau Rimas ist bei uns. Eure Mutter soll zur Hütte des Glatzkopfs kommen.«
    Wir warteten. Ich war ratlos. Sollte ich den Koffer packen? Wurden wir wirklich verlegt? Ob Jonas Recht hatte? Ging es tatsächlich nach Hause? Wir hatten nicht unterschrieben, und ich musste immer wieder an Andrius’ besorgtes Gesicht denken. Woher wusste er, dass wir auf der Liste standen? Und dass er nicht darauf stand?
    Mutter kehrte zurück. Die Leute drängten sich in der Hütte des Glatzkopfs. Als wir eintraten, wurde es noch lauter.
    »Ruhe«, sagte Herr Lukas. »Setzt euch bitte und lasst Elena erzählen.«
    »Es stimmt«, sagte Mutter. »Man hat eine Liste erstellt, und es heißt, dass man Leute verlegen will.«
    »Wie hat Andrius das erfahren?«, fragte Jonas.
    »Frau Arvydas hat Informationen bekommen.« Mutter wich seinem Blick aus. »Keine Ahnung, woher. Ich stehe auf der Liste. Meine Kinder und Frau Rimas auch. Sie stehen nicht darauf, Fräulein Grybas. Mehr weiß ich nicht.«
    »Bitte lasst mich nicht hier«, sagte Fräulein Grybas mit erstickter Stimme.
    »Hören Sie auf zu winseln. Noch wissen wir nicht, was geschehen wird«, sagte der Glatzkopf.
    Ich fragte mich, nach was für einem System man für die Verlegung ausgewählt wurde? Es gab keins. Stalins Terrorherrschaft beruhte offenbar auf reiner Willkür.
    »Wir müssen vorbereitet sein«, sagte Herr Lukas, der seine Uhr aufzog. »Denkt an die schlimme Hinfahrt. Wir sind viel schwächer als damals. Wenn wir noch einmal eine solche Reise durchmachen müssen, sollten wir vorbereitet sein.«
    »Glauben Sie wirklich, dass man uns wieder in Viehwaggons steckt?«, keuchte Frau Rimas.
    Ein Aufschrei ging durch die Menge.
    Wie sollten wir uns vorbereiten? Niemand hatte Proviant. Wir waren entkräftet und hatten alle Wertsachen verkauft.
    »Wenn es stimmt, dass ich nicht verlegt werde, unterschreibe ich das Formular«, verkündete Fräulein Grybas.
    »Nein! Das dürfen Sie nicht tun!«, wandte ich ein.
    »Ruhe!«, sagte Frau Rimas. »Ihr denkt nicht mehr klar.«
    »Ich kann noch klar denken«, erwiderte Fräulein Grybas, die ein Schluchzen unterdrückte. »Wenn ihr weg seid, Elena und du, bin ich so gut wie allein. Und wenn ich unterschreibe, darf ich die Kinder im Lager unterrichten, obwohl mein Russisch mangelhaft ist. Wenn ihr weg seid, muss ich doch ins Dorf, und das geht nur, wenn ich unterschreibe. So könnte ich weiter Briefe für uns alle schreiben. Es muss sein.«
    »Wir sollten keine übereilten Entscheidungen treffen«, mahnte Mutter und ergriff Fräulein Grybas’ Hände.
    »Vielleicht ist alles nur ein Irrtum«, meinte Frau Rimas.
    Mutter senkte den Kopf und schloss die Augen.

61
    An  diesem Abend kam Andrius und sprach draußen vor der Hütte mit Mutter.
    »Andrius möchte noch mit dir reden, Lina«, sagte Mutter.
    Uljuschka sagte etwas auf Russisch zu ihr. Mutter nickte.
    Ich ging nach draußen. Dort stand Andrius, die Hände in den Hosentaschen.
    »Hallo.« Er stieß eine Stiefelspitze in den Dreck.
    »Hallo.«
    Ich betrachtete die Reihe der Hütten. Ein Wind hob meine Haarspitzen. »Es wird wärmer«,

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