Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Kommandanten los. Ich hoffte, wir würden näher an Krasnojarsk und damit an Papa kommen.
Der Lastwagen hielt neben einem Feld. Wir durften absteigen und uns im Gras erleichtern. Doch die NKWD-Leute fingen sofort wieder an zu brüllen.
»Dawai!«
Ich kannte die Stimme und sah mich um – Kretzky!
Am späten Nachmittag erreichten wir einen Bahnhof. Ein verblichenes Schild knarrte im Wind: Bijsk. Auf dem Vorplatz standen viele Lastwagen. Doch es war anders als bei unserer Deportation im Juni letzten Jahres. In Kaunas hatte uns Panik erfasst. Leute waren schreiend hin und her gerannt. Jetzt schleppten sich Massen grauer Menschen langsam zu den Waggons wie erschöpfte Ameisen, die zu ihrem Bau zurückkehrten.
»Stellt euch alle in die Tür«, befahl der Glatzkopf. »Ihr müsst aussehen, als wäre euch unwohl. Dann stecken sie vielleicht keine weiteren Leute zu uns, und wir haben noch Platz zum Atmen.«
Ich kletterte in den Waggon. Er war länger als der auf unserer Hinfahrt. Eine Lampe hing unter der Decke, und es roch nach Urin und säuerlichem Körpergeruch. Ich vermisste die frische Luft und den Holzduft des Arbeitslagers. Wie vom Glatzkopf vorgeschlagen, versammelten wir uns in der Tür. Es klappte. Man führte zwei Gruppen zu anderen Waggons.
»Was für ein Dreck«, sagte Frau Rimas.
»Was haben Sie denn erwartet? Einen Luxus-Schlafwagen?«, erwiderte der Glatzkopf.
Schließlich steckte man doch noch weitere Leute zu uns. Eine Frau mit zwei Söhnen und einen älteren Mann. Dann hob man eine Frau und ein Mädchen hinein. Jonas gab mir einen Knuff, denn das Mädchen war zitronengelb im Gesicht, ihre Augen waren geschwollene Schlitze. Woher mochten sie kommen? Die Mutter sprach Litauisch mit ihrer Tochter.
»Nur noch eine kurze Fahrt, dann sind wir wieder zu Hause, mein Liebling«, sagte sie. Mutter half bei ihrem Gepäck. Das Mädchen hustete bellend.
Wir hatten Glück, denn in unserem Waggon befanden sich nur dreiunddreißig Leute. Dieses Mal hatten wir Platz und Licht. Das gelbgesichtige Mädchen wurde auf eine Pritsche gelegt. Mutter bestand darauf, dass Jonas auch eine bekam. Ich setzte mich neben dem Mädchen mit der Puppe auf den Fußboden.
»Wo ist deine Puppe?«, fragte ich.
»Tot«, antwortete sie und sah mich aus hohlen Augen an.
»Oh.«
»Der NKWD hat sie getötet. Weißt du noch, wie sie die Frau mit dem Baby erschossen haben? So war es auch mit Liale, nur dass sie sie in die Luft geworfen und ihren Kopf abgeschossen haben. Wie bei einer Taube.«
»Du vermisst sie sicher sehr, oder?«, fragte ich.
»Anfangs schon. Ich habe doll geweint. Ein Wächter hat mir befohlen, nicht mehr zu heulen, aber das ging nicht. Er hat mich dann gegen den Kopf geschlagen. Siehst du die Narbe?«, sagte sie und zeigte auf einen roten Wulst auf der Stirn.
Mistkerle. Sie war doch nur ein Kind.
»Musstest du auch doll weinen?«, fragte sie.
»Wieso?«
Sie wies auf die Narbe über meiner Augenbraue.
»Sie haben mir eine Sardinenkonserve gegen den Kopf geworfen«, erwiderte ich.
»Weil du geweint hast?«, wollte sie wissen.
»Nein«, antwortete ich. »Einfach nur aus Spaß.«
Sie winkte mich mit einem Finger näher. »Soll ich dir ein großes Geheimnis verraten?«, fragte sie.
»Welches?«
Sie flüsterte mir ins Ohr: »Liale meint, dass die NKWD-Leute in der Hölle schmoren werden.« Sie lehnte sich zurück. »Aber nicht weitersagen! Es ist ein Geheimnis. Liale, meine Puppe, ist im Himmel. Sie spricht mit mir. Sie erzählt mir viel. Dies ist ein Geheimnis, aber sie meint, ich darf es dir verraten.«
»Ich behalte es für mich«, versicherte ich.
»Wie heißt du?«, fragte sie.
»Lina.«
»Und dein Bruder?«
»Jonas.«
»Ich heiße Janina.« Dann plapperte sie weiter: »Deine Mama sieht jetzt richtig alt aus. Meine Mama auch. Und du magst den Jungen, der beim Lastwagen gestanden hat.«
»Wie bitte?«
»Ich habe gesehen, dass er dir etwas in die Tasche gesteckt hat. Was war es?«
Ich zeigte ihr den Stein.
»Er glitzert so schön. Ich glaube, er würde Liale gefallen. Kann ich ihn haben?«
»Nein. Er ist ein Geschenk. Ich sollte ihn wohl besser eine Weile behalten«, antwortete ich.
Mutter ließ sich neben mir nieder.
»Haben Sie das Geschenk gesehen, dass Lina von ihrem Liebsten bekommen hat?«, fragte Janina.
»Er ist nicht mein Liebster.«
War er mein Liebster? Ich wünschte es mir. Dann zeigte ich Mutter den Stein.
»Ah, du hast ihn zurückbekommen«, sagte sie. »Das bringt
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