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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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drehte er sich noch einmal nach mir um. Ich winkte, und er winkte zurück. Seine Silhouette wurde kleiner und kleiner und verschmolz schließlich mit der Dunkelheit.

62
    Sie kamen im Morgengrauen, stürmten in unsere Hütte und schwenkten die Gewehre wie zehn Monate zuvor, als sie bei uns zu Hause eingedrungen waren. Uns blieben nur zehn Minuten, aber dieses Mal war ich bereit.
    Uljuschka wuchtete sich vom Strohlager und schrie Mutter etwas zu.
    »Hör auf zu brüllen«, sagte ich. »Wir verschwinden sowieso.«
    Doch sie steckte Mutter Kartoffeln, Rüben und andere von ihr gehortete Lebensmittel zu. Sie gab Jonas ein dickes Fell, das er in seinen Koffer tun sollte. Mir schenkte sie einen Stift. Ich traute meinen Augen nicht. Warum gab sie uns Proviant? Mutter wollte sie umarmen, aber Uljuschka stieß sie weg und stapfte hinaus.
    Der NKWD befahl uns, vor der Hütte zu warten. Herr Lukas kam mit seinem Koffer herbei. Er stand auch auf der Liste. Frau Rimas folgte ihm, dann das Mädchen mit der Puppe, ihre Mutter und ein ganzer Strom weiterer Leute. Wir schlurften im Gänsemarsch zum Büro der Kolchose, unsere Habseligkeiten unter dem Arm. Seit unserer Ankunft vor zehn Monaten schienen die Gesichter um Jahre gealtert zu sein. Ob das auch für mich galt? Fräulein Grybas lief weinend auf uns zu.
    »Sie lassen euch holen. Ihr fahrt nach Amerika. Das weiß ich genau. Vergesst mich bitte nicht«, flehte sie. »Lasst mich hier nicht versauern. Ich möchte nach Hause.«
    Mutter und Frau Rimas umarmten Fräulein Grybas und versicherten ihr, immer an sie zu denken. Ich würde ihr nie vergessen, dass sie damals Rüben für uns unter ihrem Kleid versteckt hatte.
    Wir schleppten uns weiter. Fräulein Grybas blieb weinend hinter uns zurück. Dann kam die mürrische Frau aus ihrer Hütte, hob eine zerschundene Hand und nickte uns zu. Ihre Töchter klammerten sich an ihre Beine. Mir fiel ein, wie sie damals im Zug das Abortloch mit ihrer fülligen Gestalt verdeckt hatte. Jetzt war sie viel magerer. Ich hielt Ausschau nach Andrius. Dombey und Sohn steckte neben dem Familienfoto in meinem Koffer.
    In der Nähe des Büros stand ein großer Lastwagen. Kretzky stand rauchend bei zwei NKWD-Leuten. Der Kommandant wartete mit einem fremden Offizier auf der Veranda. Man rief uns in alphabetischer Reihenfolge auf. Die Leute stiegen auf die Ladefläche des Lastwagens.
    »Pass auf dich auf, Jonas«, hörte ich Andrius hinter mir sagen. »Auf Wiedersehen, Frau Vilkas.«
    »Auf Wiedersehen, Andrius«, erwiderte Mutter, nahm seine Hände und küsste ihn auf die Wangen. »Achte gut auf deine Mutter, mein Lieber.«
    »Sie wollte eigentlich kommen, aber …«
    »Ich verstehe. Bitte bestell ihr einen herzlichen Gruß«, sagte Mutter.
    Der NKWD hakte weiter die Liste ab.
    »Du schreibst mir doch, Jonas?«, fragte Andrius.
    »Klar«, sagte Jonas und reichte ihm seine kleine Hand.
    »Pass gut auf die beiden Frauen auf. Dein Vater und ich zählen auf dich«, sagte Andrius.
    Jonas nickte.
    Dann wandte sich Andrius zu mir um und schaute mir in die Augen. »Wir sehen uns wieder«, sagte er.
    Mein Gesicht blieb starr, und ich brachte keinen Ton hervor, weinte aber zum ersten Mal seit Monaten. Tränen quollen aus meinen ausgetrockneten Augen und strömten über meine Wangen. Ich wandte mich ab.
    Der NKWD rief den Glatzkopf auf.
    »Schau mich an«, flüsterte Andrius und trat dicht vor mich hin. »Wir sehen uns wieder. Denk immer daran. Denk daran, dass ich dir deine Zeichnungen bringe. Stell dir das immer vor, denn dann werde ich kommen.«
    Ich nickte.
    »Vilkas«, rief der NKWD-Mann.
    Wir kletterten auf den Lastwagen. Ich sah auf Andrius hinab. Er fuhr mit den Fingern durch sein Haar. Der Motor röhrte. Ich winkte zaghaft zum Abschied.
    Seine Lippen formten die Worte: »Wir sehen uns wieder.« Er unterstrich es durch ein Nicken.
    Ich nickte auch. Dann wurde die Klappe zugeschlagen, und ich setzte mich. Der Lastwagen fuhr ruckartig an. Wind pfiff mir ins Gesicht. Ich zog den Mantel zu und steckte die Hände in die Taschen. Und da spürte ich ihn. Den Stein. Andrius hatte ihn mir in die Tasche gesteckt. Ich wollte aufstehen und ihm signalisieren, dass ich ihn gefunden hatte, aber er war schon weg.

Asche und Eis

63
    Wir waren den ganzen Vormittag unterwegs. Die schmale Straße schlängelte sich durch den Wald. Ich versuchte, wie Mutter an das Gute zu denken. Ich dachte an Andrius. Ich hatte noch seine Stimme im Ohr. Immerhin waren wir Kretzky und den

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