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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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sagte ich schließlich.
    »Ja«, erwiderte Andrius und sah zum Himmel auf. »Komm, wir drehen eine Runde.«
    Der Schnee war geschmolzen, der Matsch getrocknet. Wir sprachen erst, nachdem wir die Hütte des Glatzkopfs hinter uns gelassen hatten.
    »Weißt du, wohin sie uns bringen?«, fragte ich.
    »Vermutlich in ein anderes Lager. Ein paar NKWD-Leute scheinen auch mitzufahren. Sie packen.«
    »Ich muss immer an meinen Vater denken. Und an das, was über ihn in der Akte stand.«
    »Ich weiß jetzt, was das Wort in der Akte bedeutet«, sagte Andrius.
    Ich blieb stehen und sah ihn fragend an.
    Er strich mir sanft die Haare aus den Augen. »Es bedeutet ›Komplize‹«, sagte er.
    »Komplize?«
    »Wahrscheinlich hat er Leuten geholfen, die in Gefahr waren«, erklärte Andrius.
    »Natürlich hat er das getan. Aber das ist ja kein Verbrechen, oder?«
    »Natürlich nicht! Wir sind keine Verbrecher«, erwiderte er. »Na, du vielleicht schon – du stiehlst Holz, Stifte und Akten.« Er sah mich mit einem unterdrückten Grinsen an.
    »Du hast gut reden: Tomaten, Schokolade, Wodka.«
    »Ja, und wer weiß, was sonst noch«, ergänzte Andrius.
    Er küsste meine Hand.
    Wir gingen Hand in Hand und schwiegen. Ich verlangsamte meine Schritte. »Ich … habe Angst, Andrius.«
    Er wandte sich zu mir um. »Nein. Hab keine Angst. Diesen Gefallen darfst du ihnen nicht tun, Lina. Sie dürfen dir keine Angst machen.«
    »Ich kann nicht anders. Ich habe mich nie an dieses Lager gewöhnt. Ich vermisse mein Zuhause, meinen Vater, meine Schule, meine Cousine.« Mein Atem ging schneller.
    »Pst«, sagte Andrius und zog mich an seine Brust. »Pass auf, mit wem du sprichst. Sei immer wachsam, ja?«, flüsterte er. Er nahm mich fest in die Arme.
    »Ich will hier nicht weg«, sagte ich. Wir standen schweigend da.
    Wieso war ich hier? Wieso lag ich in den Armen eines Jungen, den ich kaum kannte, aber auch nicht verlieren wollte? Was hätte ich in Litauen wohl von Andrius gehalten? Hätte ich ihn gemocht? Hätte er mich gemocht?
    »Ich möchte auch nicht, dass du mich verlässt«, flüsterte er schließlich kaum hörbar.
    Ich schloss die Augen. »Wir müssen wieder nach Hause.«
    »Ja«, erwiderte er. »Und wir werden heimkommen.« Er nahm meine Hand, und wir gingen zurück.
    »Ich schreibe dir. Ich adressiere die Briefe an das Postamt im Dorf«, sagte ich.
    Er nickte.
    Als wir unsere Hütte erreichten, sagte ich: »Warte kurz.« Ich ging hinein, holte alle meine Zeichnungen einschließlich der ganz kleinen aus dem Versteck im Koffer und riss Blätter aus meinem Skizzenblock. Draußen gab ich Andrius den Stapel. Die Zeichnung, die seine verprügelte Mutter zeigte, rutschte heraus und segelte auf den Boden. Sie starrte uns vom Dreck aus an.
    »Was soll das?«, fragte er und bückte sich sofort nach der Zeichnung.
    »Du musst sie für mich aufbewahren«, sagte ich und legte meine Hände auf die seinen. »Ich weiß nicht, wohin es geht, und ich will nicht, dass sie zerstört werden. Die Zeichnungen erzählen nicht nur viel von mir, sondern von uns allen. Hast du ein Versteck?«
    Er nickte. »Unter meinem Bett gibt es ein loses Dielenbrett. Dort hatte ich Dombey und Sohn versteckt«, murmelte er und betrachtete die Zeichnungen. »Du musst weiter zeichnen, Lina. Meine Mutter meint, dass die Welt nicht ahnt, was die Sowjets uns antun. Niemand weiß, welches Opfer unsere Väter gebracht haben. Wenn andere Länder davon erfahren, helfen sie uns vielleicht.«
    »Ja, ich zeichne weiter«, sagte ich. »Außerdem habe ich alles aufgeschrieben. Darum musst du diese ganzen Aufzeichnungen für mich verstecken.«
    Er nickte. »Versprich mir aber, gut auf dich aufzupassen«, bat er. »Sei nicht so dumm, wieder nach Akten zu suchen oder unter Züge zu kriechen.«
    Wir sahen einander an.
    »Und dass du mir ja keine Bücher ohne mich rauchst«, sagte er.
    Ich lächelte. »Bestimmt nicht. Wie viel Zeit bleibt uns deiner Meinung nach noch?«
    »Keine Ahnung. Es kann jeden Tag losgehen.«
    Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.
    »Krasiwaja«, flüsterte er mir in das Ohr, wobei er seine Nase an meinem Hals rieb. »Schon gelernt?« Er küsste mich auf den Nacken.
    »Noch nicht«, sagte ich mit geschlossenen Augen.
    Andrius seufzte und wich langsam zurück. »Richte Jonas aus, dass ich ihn morgen früh treffe, ja?«
    Als ich nickte, spürte ich noch seine warmen Lippen auf meinem Nacken.
    Er ging davon, meine Zeichnungen unter dem Mantel verborgen. Dann

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