Und Jimmy ging zum Regenbogen
Angst!
Noch nie im Leben hatte sie solche Angst empfunden wie nun. Sie wagte nicht, sich zu rühren.
Die Angst! Die Angst!
Irene ließ die Fäuste sinken, öffnete sie, lehnte sich zurück und starrte in die Dunkelheit des Büros. So plötzlich, wie sie gekommen war, verschwand die Angst. Irene saß erschöpft und ruhig hinter dem Schreibtisch. Sie war sehr glücklich darüber, Manuels Atem zu hören.
[home]
Vers zwei
Die Frage
Ist es
ein
lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als
eines
kennt?
1
Es war ein billiges Kuvert aus schlechtem, grauem Papier. Auf seiner Vorderseite stand in der unsauberen, wackeligen Schrift einer alten Schreibmaschine:
An:
Frau
Valerie Steinfeld
Gentzgasse 50 A
WIEN XVIII., ÖSTERREICH
Darunter, unterstrichen: WENN VERZOGEN, BITTE NACHSENDEN ! Auf der Rückseite des Kuverts, am oberen Längsrand: Absender: Daniel Steinfeld, Al. 17 Maja 7/51, Warschau.
Manuel Aranda drehte den Umschlag hin und her. Er sah Irene Waldegg an. Sie erwiderte seinen Blick mit schreckerfüllten Augen. Die Augen waren noch immer gerötet, aber nicht mehr verquollen, Irene trug an diesem Vormittag keine Brille. Sie war jedoch immer noch stark geschminkt, um ihr elendes, erschöpftes Aussehen zu verbergen. Ein schwarzes Jersey-Kostüm, in dessen Revers eine goldene Brosche steckte, hatte sie angezogen, durchbrochene schwarze Nylonstrümpfe, schwarze Spangenschuhe … Um halb acht Uhr früh war Manuel von ihr in der Apotheke geweckt worden. Er hatte bis dahin tief und fest geschlafen und beim Erwachen zunächst nicht gewußt, wo er sich befand. Irene war für kurze Zeit am Schreibtisch eingenickt. Die Nachtglocke hatte nicht mehr geläutet …
»Sie müssen aufstehen und gehen, bevor meine Angestellten kommen, Herr Aranda.«
Er hatte sich schlaftrunken erhoben, Schuhe und Jacke angezogen.
»Wenn Sie sich waschen wollen … Ich koche inzwischen noch einmal Kaffee …«
Er war sich über das unrasierte Gesicht gefahren und hatte den Kopf geschüttelt.
»Ich mache mich besser auf den Weg ins Hotel. Tut mir leid, ich bin einfach eingeschlafen.«
»Ich war sehr … sehr froh darüber, daß Sie diese Nacht hier verbracht haben, Herr Aranda.«
Er hatte sie lange angesehen. Sie hatte die Brille abgenommen und seinen Blick erwidert.
»Um halb elf komme ich und hole Sie ab zu dieser Frau Barry.« Er war verlegen geworden.
»Gut.«
»Ich würde Sie gern noch nach Hause fahren. Ihr Wagen ist doch in Reparatur.«
»Das geht nicht. Ich muß warten, bis meine Leute da sind. Dann nehme ich die Straßenbahn. Es ist nicht weit …«
Manuel Aranda fuhr ins ›Ritz‹.
Sein Appartement dort war mit Stilmöbeln eingerichtet. In einer Ecke des Salons stand der gewaltsam geöffnete Karton, in dem sich alles befand, was Manuels Vater im Moment seines Todes auf dem Leib trug – alles mit Ausnahme des Safeschlüssels, der gestohlen worden war. Manuel glaubte, einen leichten Geruch nach Lysol zu verspüren, als er an dem Karton vorüber ins Badezimmer ging und den Heißwasserhahn der Wanne aufdrehte. Was mache ich mit den Sachen, überlegte er. Mit ihnen und all den anderen? Aufheben? Vor mir her heimschicken? Wegwerfen? Er kam zu keiner Entscheidung.
Nach dem Bad fühlte er sich besser. Er bestellte Frühstück und fand zu seinem Erstaunen, daß er Appetit hatte. Der starke Kaffee brachte ihn wieder ganz zu sich. Es war knapp nach dreiviertel neun, als das Telefon läutete. Manuel hob ab und vernahm eine weibliche Stimme, die ihm bekannt vorkam.
Die Stimme sprach gehetzt: »Herr Aranda? Gott sei Dank, daß ich Sie erreiche. Ihr Vater wohnte doch im ›Ritz‹. Da dachte ich, ich versuche es einmal, vielleicht wohnen Sie auch dort. Hier spricht Martha Waldegg, die Mutter von Irene.«
»Guten Morgen, Frau Waldegg. Was kann ich für Sie tun?«
»Das Gespräch heute nacht … als meine Tochter mich anrief … Sie haben ja mitgehört …«
»Ja.«
Die Stimme von Irenes Mutter kam nun stammelnd: »Das ist ein großes Unglück, das da geschehen ist, Herr Aranda … eine furchtbare Sache … und es kann noch viel mehr Unglück geschehen.«
»Frau Waldegg, pardon, mein Vater wurde ermordet –
von Ihrer Schwester!
Vielleicht denken Sie einmal daran.«
»Ich denke daran … dauernd … Ich wollte Sie nicht verletzen oder beleidigen, wahrhaftig nicht … Ich wollte Sie nur bitten, als eine Mutter, die Angst um ihr Kind hat, forschen Sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher