Und Jimmy ging zum Regenbogen
nicht gehört.
»Ich sagte: Es könnte ein Verwandter von Valerie sein, ein Verwandter ihres Mannes. Aber ich weiß nichts von solchen Verwandten. Ich glaubte immer, Paul Steinfeld hätte keine gehabt. Ich rufe meine Mutter an!«
»Nein!« Er packte ihren Arm. »Warten Sie. Wir wollen den Brief erst lesen, vielleicht wissen wir dann mehr.«
»Den Brief lesen? Aber er ist doch an Valerie adressiert!«
Nebenan brummte der Staubsauger, laut und monoton.
»Wollen Sie ihn deshalb zurückgehen lassen?«
»Wer immer den Brief geschrieben hat, ahnte nicht, daß Valerie tot ist!«
»Vielleicht hilft es uns gerade deshalb, zu wissen, was er ihr mitzuteilen hat!«
Sie sahen sich an.
Nach ein paar Sekunden sagte Irene: »Öffnen Sie den Umschlag.«
Manuel riß ihn auf. Er entfaltete das gelbliche, faserige Papier, das sich darin befand, und las laut vor, was, mit der defekten Maschine geschrieben, auf dem desolaten Bogen stand: »›Warschau, 6. Januar 1969‹ – da lebte Frau Steinfeld noch!« Irene nickte. Ihre Hände rieben sich ineinander. Er las weiter: »›Meine liebe Valerie. Verzeih, wenn ich mich nach dieser kleinen Unendlichkeit, in der wir nichts voneinander hörten, an Dich wende, und vergiß bitte, bitte‹ – noch einmal, gesperrt –, ›daß Dein Mann und ich uns nicht leiden konnten. Wären wir einander gute Brüder gewesen, wer weiß, wäre alles vielleicht anders gekommen …‹« Manuel ließ den Bogen sinken. »Paul Steinfeld hatte einen Bruder!«
»Einen Bruder! Meine Mutter mußte es wissen! Aller Wahrscheinlichkeit nach! Das geht zu weit! Das kann sie nicht machen mit mir! Ich will sie zur Rede stellen …«
Manuel dachte an das Telefongespräch, das er geführt hatte, und sagte eindringlich: »Hören Sie auf damit,
bitte!
Ihre Mutter verheimlicht etwas – das wissen wir. Nun gut. Wenn sie es verheimlichen will, dann wird sie es uns auch jetzt nicht sagen, vor allem, wenn Sie in einer derartigen Stimmung mit ihr telefonieren. Wir müssen allein dahinterkommen – wie hinter alles in dieser Geschichte.«
»Sie haben recht. Es hätte keinen Sinn. Meine eigene Mutter!«
»Wir wissen nicht, was sie verschweigt«, sagte Manuel hastig. Er las: »›… wäre alles vielleicht anders gekommen. Wahrscheinlich auch nicht, wenn ich noch einmal darüber nachdenke. Er ist tot, und seit 1948 ist unser persönlicher Kontakt ganz abgerissen. Ich weiß, daß Du mich immer gern gehabt hast, obwohl wir uns so selten sahen. Es ist …‹«
»
Sahen?
Das heißt, er war in Wien! Wann? Nur 1948? Er schreibt, daß sie einander öfter sahen, wenn auch selten … Wie kam er nach Warschau?« rief Irene.
»Vielleicht war Frau Steinfeld einige Male in Warschau und hat ihn dort gesehen.«
»Nein! Sie war nie …« Irene brach ab. »Oder doch? Ich weiß doch überhaupt nichts Wichtiges von ihr.«
Manuel nahm wieder den Brief. »›Es ist nun eine Situation eingetreten, an die ich nie geglaubt habe, und in der ich – erschrick nicht! – dringend Deine Hilfe brauche …‹«
»Mein Gott, und sie ist tot, tot, tot!« Irene fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»›Vielleicht kannst Du Dir schon vorstellen, worum es sich handelt. Ich weiß nicht, wie und ob überhaupt Nachrichten zu Euch gedrungen sind. Darum diese dringende Bitte: Ein guter Freund von mir, ein gewisser Jakob Roszek, trifft mit seiner Familie am Dienstag, dem 21. Januar, um 7.40 Uhr, mit dem ›Chopin-Expreß‹ auf dem Wiener Ostbahnhof ein. Er hat eine Frau und eine fünfzehnjährige Tochter, sehr hübsch. Roszek ist groß und stark, er trägt eine dicke Brille und hat ein sehr breites, sehr blasses Gesicht. Er wird eine Pelzmütze tragen, die Frau und die Tochter Pelzmäntel. Die Tochter hat blondes Haar, wie die Mutter und beide haben blaue Augen. Als Erkennungszeichen werden Mutter und Tochter weiße Seidenschals lose über dem Haar tragen, Roszek wird ein großes, dickes Buch, in Leder gebunden, unter dem Arm halten.‹ Klammer. ›Shakespeares Gesammelte Werke in polnischer Sprache‹. Klammer zu.«
Irene sank auf einen Stuhl, während Manuel weiterlas. Sie sah ihn jetzt unentwegt an.
»›Du wirst meinen Freund bestimmt erkennen, liebe Valerie, denn er wird so lange auf dem Perron stehenbleiben, bis er angesprochen wird. Und wenn etwas schiefgehen sollte, will er Dich über die Lautsprecheranlage des Bahnhofs ausrufen lassen. Bitte, sei unter allen Umständen‹ – unterstrichen – ›am Dienstag um 7.40 Uhr am
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