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Und Jimmy ging zum Regenbogen

Und Jimmy ging zum Regenbogen

Titel: Und Jimmy ging zum Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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wird unter Druck stehen, ganz bestimmt, schon lange.«
    »Warum …« Manuel sah Groll hilflos an. »Warum die Lügen … der Terror … die Erpressung … das Gift? Warum die Toten? Warum müssen Menschen einander töten? Ermorden und vernichten – seit Jahrtausenden? Immer perfekter, immer skrupelloser? Warum?«
    Groll strich über ein loses Deckblatt der Virginier.
    »Beim Menschen«, sagte er, »gelten nicht die gleichen Tötungshemmungen wie bei allen Tieren, die in sozialen Verbänden zusammenleben.«
    »Aber weshalb nicht?«
    »Ich will es Ihnen zu erklären versuchen, Manuel …« Groll hielt den dünnen Rahmen der Glasscheibe, unter der sich das Ginkgo-Blatt befand, als wolle er sich auf etwas stützen. »Bei den Tieren ist es doch so, nicht wahr: Kommt es zum Kampf mit einem Artgenossen – etwa um ein Weibchen oder um den Besitz eines Reviers –, dann ist schließlich einer der Überlegene …«
    »Ja. Und er könnte den andern umbringen! Die Waffen dazu – Zähne, Krallen, Gehörn – besitzt er!« Manuel richtete sich auf. »Aber er tut es nicht!«
    Groll nickte.
    »Er tut es nicht. Der Unterlegene flieht entweder und wird eine Weile verfolgt – oder er streckt, falls er nicht fliehen kann, die Waffen, mit einer Demuts-, einer Unterwerfungsgeste. Beim Hund kann man das oft genug sehen. Wie unter seinen Vorfahren, den Wölfen, üblich, wirft sich der Besiegte auf den Rücken und bietet dem Sieger die ungeschützte Bauchseite. Mit dem Erfolg, daß beim Sieger automatisch eine instinktive, also eine angeborene Hemmung einklinkt: Er
kann
einfach nicht zubeißen.« Groll redete eindringlicher. »Natürlich gibt es gelegentlich Unglücksfälle. Ein Hirsch forkelt einen andern zu Tode. Aber das sind Ausnahmen. Auch bei Hundebeißereien gibt es Todesfälle. Das kommt daher, daß solche Hunde, wie es oft bei Haustieren geschieht, diesen oder jenen Instinkt – in unserem Fall den der Tötungshemmung – verloren haben.«
    »Und warum ist es beim Menschen anders?« rief Manuel. »Warum hat Valerie Steinfeld meinen Vater umgebracht? Warum ist Meerswald umgebracht worden? Warum hat mein Vater den Tod der ganzen Weltbevölkerung vorbereitet und ermöglicht – ohne Skrupel, ohne Gewissen?«
    »Das hat mancherlei Gründe, unter anderem auch schlicht biologische.«
    Groll trank wieder. Er trank viel Tee, wenn er nachts schrieb, arbeitete, sprach. »Es fing damit an, daß der Mensch, im Gegensatz zu seinen Affenverwandten, nicht mit den Zähnen kämpft, sondern mit den Händen. Nur Kleinkinder beißen in Angriff und Abwehr. Solange der Mensch noch mit den Händen zupackte oder zuschlug, war kaum mit Todesfällen zu rechnen. Schlimmstenfalls ging es zu wie in einem Krimi, in dem Gangster und Polizisten sich prügeln. Dann aber kamen die Vormenschen auf die Idee, mit Knüppeln und Steinen auf tierische Feinde oder Beute loszugehen – und anschließend aufeinander.« Asche fiel über Grolls Schlafrock, er bemerkte es nicht. »Knüppel und Stein waren der Anfang der Fernwaffen – vom Pfeil und vom Speer über das Gewehr bis zur Fliegerbombe und zur Interkontinentalrakete, zur Bakterienbombe und zum abgesprühten Bazillengift. Die Gegner rückten immer weiter auseinander! Die Beschwichtigungs- oder Unterwerfungsgeste – die geöffnete, unbewaffnet erhobene Hand, die man dem Feind zukehrte – ist längst überhaupt nicht mehr zu sehen!«
    »Das genügt mir nicht. Ich …«
    »Warten Sie! Die Hauptsache aber ist, daß wir Menschen – wie jene Hunde, die ihre Gegner umbringen – im Lauf unserer Entwicklung eine ganze Reihe von Instinkten
verloren
haben, weil wir uns sozusagen zu Haustieren unserer selbst machten – und zu dem, was da verschwunden ist, gehört wohl auch die instinktive Tötungshemmung! Indem unser Großhirn die stammesgeschichtlich älteren Hirnteile buchstäblich überwuchert hat, indem es uns die tödlichsten Waffen hat erfinden lassen, sind gleichzeitig jene angeborenen Mechanismen geschrumpft, die ihren Sitz im Zwischenhirn hatten. Und zu ihnen gehörte das alte Gesetz: Du sollst nicht deinesgleichen töten. Kain, lieber Manuel, steckt in jedem von uns. Genügt Ihnen das?«
    Manuel nickte.
    »Ja, das genügt mir.« Er sprach langsam und sehr deutlich. »Jetzt begreife ich mich selber. Jetzt weiß ich, warum ich nicht aufhören werde, diesen Fall zu verfolgen, auch wenn er unlösbar ist, wie Sie glauben. Nun bin ich der Jäger, der Menschenjäger bin ich nun! Je mehr mich

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