Und Jimmy ging zum Regenbogen
haben sie ihn aus der HJ geworfen …«
»Das auch noch!«
»Natürlich. War doch zu erwarten. Alles ging wieder los, viel schlimmer als das erste Mal! Er hat mich verflucht und Paul verflucht und getobt und sich nicht beruhigen lassen. Er spricht kein Wort mit mir seither.« Valerie ergriff einen Arm der Schwester. »Nachts liegt er in seinem Bett und weint, stundenlang … die Agnes und ich haben es gehört! Und von Paul weiß ich nicht einmal, ob er durchgekommen ist, ob er noch lebt!«
»Arme Valerie …«
»Zwei Kinder … in dieser Zeit! Jeden Tag können die Nazis etwas unternehmen gegen Mischlinge … sie behandeln wie Juden, wer weiß? Und ich bin allein! Ich muß sehen, daß ich Heinz durchbringe! Aber wenn ich jetzt noch ein Kind bekomme … das ist unmöglich, Martha! Das ist unmöglich!« Valerie holte keuchend Atem. »Es muß passiert sein, bevor Paul geflohen ist … an diesem Nachmittag, ehe ich ihn zum Westbahnhof brachte … Ich hatte noch so ein Gefühl …« Valeries Nägel gruben sich in den Arm der Schwester. »Hilf mir jetzt! Bitte, bitte, hilf mir!«
»Wie?«
Valerie sprach beschwörend und gleichzeitig gehetzt: »Elf Jahre bist du verheiratet. Ihr habt keine Kinder, obwohl ihr sie euch so wünscht. Dein Mann ist sehr traurig darüber. Das hat er mir gesagt! Das hast du mir gesagt! Dein Mann ist nicht da. Er wird auch nicht so bald aus Berlin zurückkommen. Keinesfalls vor Ende des Jahres. Und das würde genügen, Martha, das würde genügen.«
»Du meinst … du würdest …«, stammelte die Schwester.
»Ich muß!
Ich muß doch! Bitte, Martha, hilf mir! Du … du hilfst doch auch dir! Denk nur, wie glücklich Hans wäre, wenn du ein Kind bekommst, endlich ein Kind – nach all der Zeit …«
»Natürlich«, sagte Martha, »würde er glücklich sein. Ich würde auch glücklich sein mit einem Kind. Aber du … Valerie … du … es wäre doch
deines!
Glaubst du, daß du das aushalten könntest?«
Valerie nickte stumm.
Martha Waldegg stand abrupt auf. Sie trat an das Fenster. Ein goldgelber reifer Apfel fiel eben von einem Baum und rollte ein Stück die Wiese hinab. Die Bienen summten, die Blumen dufteten, in der Ferne stießen die Puffer der rangierenden Waggons gegeneinander.
»Wahnsinn«, sagte Martha mit erstickter Stimme. »Wahnsinn. Aber dann wieder … wenn ich denke …«
»Ja?« fragte Valerie. »Ja?«
»… wie Hans sich freuen würde … und ich … ein Kind … Unsere Ehe wäre wieder so wie früher, wie ganz am Anfang …«
»Nun, also!«
»Aber – ich denke jetzt einmal gar nicht an dich, Valerie –, aber da gibt es so viele Schwierigkeiten … Wir brauchen einen Arzt …«
»Du hast doch einen! Den alten Doktor Orlam! Zu dem gehst du, seit du verheiratet bist! Der weiß alles über deine Ehe! Und ein Nazi ist er auch nicht, hast du mir gesagt …«
»Nein, ein Nazi ist er nicht. Im Gegenteil. Aber trotzdem … trotzdem! Valerie, denk, was er riskiert!«
»Er hat Schweigepflicht. Wir reden mit ihm. Nein sagen kann er noch immer! Los, ruf ihn an!«
»Jetzt, am Sonntag?«
»Ich muß doch nach Wien zurück. Sag ihm, es ist dringend. Bitte, Martha …«
Ein langes Schweigen folgte.
»Nein«, sagte Martha zuletzt, den Blick auf den blühenden Garten gerichtet. »Nein, es geht nicht. Das kann man nicht tun. So sehr ich und Hans uns ein Kind wünschen. So schön es wäre. Es geht nicht, Valerie. So etwas ist unmöglich.«
73
»Es besteht kein Zweifel«, sagte der Dr. Josef Orlam zwei Stunden später in dem stillen Ordinationszimmer seiner Praxis. Er war ein älterer Mann mit gütigen Augen, einer Nickelbrille, die ihm ständig auf die Nasenspitze rutschte, und schmalen Händen, die schon viele Hunderte von Kindern zur Welt gebracht hatten. »Nicht der geringste Zweifel. Sie sind schwanger, Frau Steinfeld. Im dritten Monat.«
Er hatte Valerie untersucht. Nun saß sie, wieder angezogen, neben Martha vor Orlams Schreibtisch. Die Schwestern hatten sich dem erfahrenen Arzt vollkommen anvertraut, gleich nachdem sie eingetroffen waren. Orlam hatte vorgeneigt, ohne ein Zeichen von Erschrecken oder Abwehr, gelauscht. Er wohnte im Stadtzentrum, am Nikolaiplatz, gegenüber der Kirche. Wenn man aus dem Fenster des Ordinationszimmers blickte, sah man das träge Wasser der Drau und, zum Eingang des Platzes führend, die Brücke über den Fluß. Platz und Brücke waren sonntäglich leer. Der Arzt lebte allein. Heute, am Feiertag, hatte er auch
Weitere Kostenlose Bücher