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Und Jimmy ging zum Regenbogen

Und Jimmy ging zum Regenbogen

Titel: Und Jimmy ging zum Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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noch immer das Zitherspiel und der leise Gesang des Weinhauers.
    Manuel trank sein Glas leer und füllte es wieder. Er sah zu dem kleinen, offenen Fenster und betrachtete die Schneeflocken, die herabsanken, bis ihm wieder schwindlig wurde. So viele Flocken, dachte er. So viele Geheimnisse. Eine Frau hat meinen Vater vergiftet. Mein Vater war in eine böse Affäre verwickelt. Damit muß ich mich abfinden. Vielleicht stellt sich heraus, daß ihn
trotz allem
keine Schuld traf, daß er ein
Opfer
war und kein Täter. Aber das verschlüsselte Manuskript. Was hat es zu bedeuten?
Kann
es überhaupt eine
gute
Bedeutung haben? Ich bin Chemiker. Ich habe eine exakte Wissenschaft studiert. Mir ist es nicht gegeben, mit Unsicherheiten, Rätseln und Zweifeln zu leben. Ich brauche Tatsachen, vernünftige Tatsachen, um all dies Dunkel aufzuhellen und zu klären. Habe ich nicht genug Tatsachen? Zwei Tote. Geheime Agenten. Eine Staatsaffäre, wenn Groll recht hat. Das Manuskript. Ja, das
sind
Tatsachen, die man
dennoch
nicht versteht! Verzweifelt dachte Manuel: Unser aller Existenz ist eine Tatsache. Aber sie wäre unbegreiflich, wenn wir nicht hier wären. Wir sind hier, und sie bleibt weiter unbegreiflich. Vater, dachte er, Vater, den ich liebe, darf ich noch glauben, daß du der wunderbare Mann warst, als der du mir immer erschienen bist?
    »Sie war eine wunderbare Frau …«
    Das hatte Irene Waldegg von Valerie Steinfeld gesagt, heute nachmittag, vor dem verschneiten Grab.
    Eine wunderbare Frau.
    Und mein Vater war ein wunderbarer Mann.
    Können wir beide recht haben? Täusche ich mich? Täuscht sich Irene?
Irene!
    Plötzlich mußte Manuel heftig an sie denken. Irene hat Nachtdienst heute, in der Apotheke. Ich will noch zu ihr fahren. Ich muß ihr erzählen, was geschehen ist. Ich muß mit ihr sprechen. Große Sehnsucht, Irene Waldegg wiederzusehen, erfüllte ihn, aber seine Glieder waren schwer wie Blei. Noch fünf Minuten, dachte er. Noch ein Glas Wein.
    Als er den Krug hob, öffnete sich die Tür, und Seelenmacher kam herein.
    Es war Manuel nicht aufgefallen, daß schon seit einiger Zeit kein Gesang und kein Zitherspiel mehr erklangen.
    Der große Mann mit dem wettergegerbten Gesicht brachte einen Krug und Gläser mit. Er lächelte Manuel an, nickte und setzte sich zu ihm. Seelenmacher schwieg eine ganze Weile, dann sagte er: »Mein Freund hat mich gebeten, nach Ihnen zu schauen.« Er füllte die neuen Gläser aus dem neuen Krug. »Versuchen Sie einmal den«, sagte er. »Eine andere Sorte. Ich habe nur ganz wenig davon. Frühroter Veltliner.« Seelenmacher sprach langsam und einfach. »Sie haben einen großen Kummer, sagt mir mein Freund. Und großes Unglück ist Ihnen widerfahren. Sie sind verwirrt und verstört und traurig.«
    Manuel nickte. Der neue Wein wärmte ihn und machte ihn benommen. Irene, dachte er, ich will zu Irene fahren. In ein paar Minuten. Noch ein paar Minuten will ich hierbleiben, im Frieden und in der Geborgenheit dieses Zimmers …
    »Wolfgang – der Hofrat Groll – hat Ihnen erzählt, daß ich ein Priesterseminar besuchte und Pfarrer werden wollte, nicht wahr?«
    Manuel nickte.
    »Nun«, sagte Seelenmacher, »damals, vor langer Zeit, traf ich – mit Erlaubnis – immer wieder einen Rabbiner im Zweiten Bezirk. Wir diskutierten nächtelang in seiner Synagoge. Er erzählte mir eine chassidische Legende, die ich nie vergessen habe. Ich möchte sie gern Ihnen erzählen – vielleicht tröstet Sie die Geschichte. Wollen Sie sie hören?«
    Manuel nickte.
    Seelenmacher sagte, seine zerfurchten, großen und von schwerer Arbeit rauhen Hände betrachtend: »Nach dieser Legende gibt es, seit unsere Welt besteht, Gerechte und Ungerechte auf ihr. Manchmal mehr Gerechte, manchmal weniger. Immer aber und zu allen Zeiten gibt es mindestens sechsunddreißig von ihnen. Die muß es geben, denn sonst könnte unsere Welt keinen Tag lang weiterexistieren, sie würde untergehen in der eigenen Schuld …« Seelenmacher trank, und auch Manuel trank wieder von dem neuen Wein und sah zu dem silbernen Rieselvorhang der Flocken vor dem Fenster. »Die Sechsunddreißig sind nicht durch Rang oder Stellung gezeichnet. Sie verraten ihr Geheimnis nie. Vielleicht kennen sie es selbst nicht. Und trotzdem sind sie es, die in jeder neuen Generation unserem Leben seine Berechtigung geben und jeden Tag von neuem die Welt retten.«
    Seelenmacher schwieg wie Manuel.
    Nach einer langen Pause sagte er: »Die Sechsunddreißig lassen nicht

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