Und keiner wird dich kennen
sich etwas vorgenommen hat, zieht sie es auch durch. Aber was ist, wenn Robert Barsch wirklich Ernst macht? Wird sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden nicht nur ihren Bruder, sondern auch noch ihre Mutter verlieren?
»Wir haben schon einen Psychologen angefordert«, sagt Tellkamp. »Einen, der sich mit Verhandlungen auskennt. Vielleicht kann er das noch irgendwie umbiegen. Damit jemand anders hingehen kann. Jemand, der nicht auf Barschs persönlicher Abschussliste steht.«
Maja glaubt nicht, dass das irgendetwas nützen wird. Der Kerl will Lila.
Und sonst niemanden.
Robert hat Appetit auf einen Döner, und nach einem Blick auf die Landkarte entscheidet er sich für einen Abstecher nach Dachau. Es ist seine letzte Gelegenheit, auszugehen, bevor die Fahndung richtig in Gang kommt und alle sein Bild im Fernsehen gesehen haben. Der Junge bekommt morgen wieder etwas, der soll ruhig Hunger kriegen. Dann ist er wenigstens richtig dankbar fürs Frühstück.
Er selbst war seiner Mutter nicht dankbar, aber wofür auch? Ihre eigenen Wünsche waren ihr immer am wichtigsten und seine kamen nicht mal unter »ferner liefen«. An eine Umarmung kann er sich nicht erinnern. Meist war sie sowieso nicht da, sie reiste viel, das war ihre Leidenschaft und das Kind Robert war ihr »passiert«. So ein Pech aber auch. Am Anfang klammerte er sich noch an ihr Bein, wenn sie mal auftauchte, bettelte darum, dass sie ihn mitnahm, doch das gab sich irgendwann ... stattdessen lungerte er nach dem Kindergarten, nach der Schule stundenlang im Wartezimmer seines Vaters herum, der als Hausarzt arbeitete. Der Vater hatte auch keine Zeit für ihn, er musste ja auf Patienten warten, die vielleicht kamen oder vielleicht auch nicht.
Der Motor seines BMWs grollt sanft, zufrieden lauscht Robert dem Klang. In der Innenstadt von Dachau sucht er eine Viertelstunde lang nach einem guten Parkplatz, er kann es sich nicht leisten, die Aufmerksamkeit einer Politesse zu erregen. Ist er angespannt? Robert lauscht in sich hinein. Nein, er genießt jede Minute, weil Lila sich jetzt wahrscheinlich höllische Sorgen macht. Geschieht ihr recht, wie konnte sie nur auf die Idee kommen, sich von ihm zu trennen? Sie hätte seine Liebe nicht mit Füßen treten sollen!
Robert gräbt die Zähne in seinen Döner und beobachtet die anderen Gäste. Morgen wird in den Zeitungen sein Bild prangen, er würde es zu gerne sehen. Sollen sie ihn doch suchen, er hat keine Angst. Auch nicht vor dem Knast. Klar, er riskiert viel diesmal, aber es fühlt sich gut an. Sein bisheriges Leben bedeutet ihm fast nichts, er hat kein Problem damit, es aufs Spiel zu setzen. Es gibt nur eins, das wichtig ist. Sobald Lila wieder bei ihm ist, werden sie beide nach Spanien abhauen – wenn sie Tag und Nacht fahren, sind sie bald über der Grenze. Das Kind werden sie einfach mitnehmen, ohne den Jungen wird Lila nicht gehen wollen, aber die Tochter bleibt hier. Dort unten könnten sie auf der Finca seines Onkels wohnen, einem kleinen, völlig abgeschieden gelegenen Haus mit Terrakotta-Dachziegeln inmitten von Zitronenbäumen. Das ganze Jahr über Sonnenschein und keine anderen Männer, mit denen Lila anbändeln kann. Niemand wird sie dort stören ...
Als er zurückkommt in die Scheune, macht das Kind seltsame Geräusche, schnauft und grunzt. Robert nimmt ihm den Knebel ab. »Was ist?«
»Kann ich bitte etwas zu essen haben?«, sagt der Junge.
Na gut, er ist ja schließlich kein Unmensch. Also rührt Robert eine Portion Haferflocken mit H-Milch an und zieht den Schlafsack so hin, dass der Kleine aufrecht sitzt. Er hält die Schale in der Hand und füttert den Jungen, ihn loszubinden lässt er lieber bleiben, Kinder sind flink, womöglich versucht er zu fliehen und macht jemanden auf sich aufmerksam. Draußen rauschen die Autos vorbei, alle wollen irgendwohin, nie hält jemand an. Aber manchmal kommen auch Fahrradfahrer vorbei, und die könnten, wenn es ganz schlecht läuft, etwas hören.
Wieder ein Löffel Haferflocken. Bisher hat alles gut geklappt. Aber dann bewegt das Kind sich im Schlafsack und die ganze Schüssel kippt um. Das klumpige weißgraue Zeug kleckert auf Roberts brandneue schwarze Designerjeans. Wut flammt in ihm hoch. »Wieso hast du nicht aufgepasst, verdammt noch mal? Schau dir diese Schweinerei an!«
Er gibt dem Gör einen Stoß, sodass es zur Seite kippt. Jetzt muss er sich erst mal darum kümmern, seine Jeans irgendwie abzuwischen.
Das Kind fängt schon wieder an zu
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