Und keiner wird dich kennen
Tellkamp ist mit einer Kollegin noch immer da, gerade trinkt er aus einer blau lackierten Alu-Trinkflasche einen Schluck Leitungswasser, das Handy am Ohr. »Unsere Leute überprüfen gerade sämtliche Kleingärten«, berichtet er Lila. »Robert Barsch wohnt hier nicht, er hat keinen Zugang zu einem eigenen Grundstück, auf dem er Finn gefangen halten könnte. Er muss sich also irgendwo eingenistet haben.«
Maja nickt, das klingt plausibel. Doch Lila sieht aus, als würde sie jeden Moment ausrasten, als sie den Kommissar anstarrt. »Was wird noch getan? Erklären Sie mir das mal! Was tun Sie, um meinen Sohn zu befreien?«
Der blickt zurück, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Eine rote Schleife am Sakko des Kommissars fällt Maja auf – so was hat Maja lange nicht mehr gesehen, soll das nicht Solidarität mit HIV-Infizierten ausdrücken? Tellkamp hat ihren Blick registriert, doch er geht nicht darauf ein. »Es sind auch schon Hundestaffeln und ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera unterwegs, um Finn zu suchen«, erklärt er nüchtern. »Und das Sondereinsatzkommando wird im Laufe der nächsten Stunde eintreffen.«
Lila nickt, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Haben Sie selbst Kinder?«
»Ja.« Ein kurzes Lächeln, fast sofort wieder verschwunden. »Eine Tochter, die gerade meinen ersten Enkel zur Welt gebracht hat. Und ich hatte einen Sohn.«
Erschrocken blickt Maja ihn an, und Lila sagt: »Oh ... was ist passiert?«
Tellkamp berührt die rote Schleife an seinem Sakko und sagt knapp: »AIDS ist passiert. Er hat gedacht, ihn würde es schon nicht erwischen.« Ohne das betroffene Schweigen zu beachten, trinkt er noch einen Schluck aus seiner Wanderflasche, checkt eine Mitteilung auf seinem Smartphone und steht dann auf. »Es sind weitere Zettel auf Laternen entdeckt worden. Wir analysieren gerade, in welcher Gegend und ob dabei ein Fahrzeug gesehen wurde. Leider wissen wir nicht ganz genau, mit was für einem Wagen Barsch fährt, zurzeit ist kein Auto auf seinen Namen zugelassen. Aber seine Nachbarn sagten, er hätte einen dunklen BMW.«
Lila steht auf, ihre Bewegungen sind steif wie die einer Marionette. »Mein Sohn hat nicht mehr viel Zeit«, sagt sie zu Tellkamp. »Ich muss eben Liebe heucheln und auf Roberts Forderung eingehen ... sobald Finn frei ist, können Sie zugreifen und Barsch verhaften ...«
Besonders überrascht ist Maja nicht, eigentlich hat sie schon damit gerechnet. Sie horcht in sich hinein: Hätte sie dasselbe für Elias getan? Ihr Leben für ihn riskiert? Ja. Aber für sie scheint sich Robert Barsch nicht zu interessieren. Eine Heldinnenrolle gibt es für sie nicht, sie gibt ja auch schon die Verräterin.
»Viel zu gefährlich«, widerspricht die blonde Kripobeamtin Lila, noch ehe Tellkamp antworten kann. »Wir können Sie unmöglich solcher Gefahr aussetzen.«
»Ach ja?« Lilas Augen schleudern Blitze. »Versuchen Sie mal, mich daran zu hindern! Denken Sie, ich lasse meinen Sohn krepieren? Wenn Robert will, dass ich zu ihm gehen soll, dann gehe ich hin und basta!«
Der Kommissar nickt nachdenklich. »Lassen Sie uns das ganz ruhig durchdenken, Frau Marquart. Riskant ist die Sache natürlich. Haben Sie nicht gesagt, es ginge ihm hauptsächlich um Rache? Es ist leider durchaus möglich, dass er Sie nur an einen Treffpunkt locken will, um erst den Jungen und dann anschließend Sie zu erschießen.«
»Ich weiß es nicht!« Lilas Blick ist gequält. »Vielleicht will er wirklich einen Neuanfang mit mir, das ist so schwer zu sagen, ich habe ihn ja seit drei Jahren weder gesehen noch gesprochen.«
»Denk dran, was er am Telefon gesagt hat«, erinnert Maja sie. Diese Worte sind wie ein Brandzeichen auf ihrer Seele. Ihr dachtet, ihr seid mich los, was? Aber ich weiß, wo ihr seid, und diesmal killen wir euch.
»Wie wäre es denn, wenn eine Polizeibeamtin, die Frau Marquart ähnlich sieht, verkleidet zum Treffpunkt geht?«, schlägt Stellas Mutter vor.
Tellkamp sieht nicht sonderlich begeistert aus. »Damit riskieren wir ebenfalls viel. Wenn ein Täter merkt, dass man versucht, ihn übers Ohr zu hauen, macht ihn das erst recht wütend ...«
»Es gibt keine Alternative.« Wieder ist Lilas Stimme laut geworden. »Wenn er ein Treffen vorschlägt, werde ich hingehen.«
»Mama«, versucht Maja zu protestieren, aber Lila blickt sie nicht einmal an.
Maja klammert sich an Lorenzos Hand. Die Angst würgt sie, eine Angst, die stärker ist als je zuvor. Sie kennt ihre Mutter, wenn die
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