Und kurz ist unser Leben
tiefer in seinen Sessel.
«Sie haben natürlich Recht. Es
würde sich nicht lohnen, den Fall wieder aufzurollen, es sei denn...» Strange
legte eine wirkungsvolle Pause ein und fuhr dann in verbindlichmildem Ton fort:
«...es sei denn, unser Anrufer — der sich hinter der schützenden Anonymität
versteckt, Morse! — hätte uns neue Hinweise geliefert. Nach meinem Appell —
einem landesweiten Appell — sind noch mehr zu erwarten. Und dabei denke ich
nicht nur an einen dritten Anruf unseres Freundes, auch wenn ich darauf hoffe.
Ich denke an Hinweise aus der Bevölkerung, Hinweise von Leuten, die dachten,
der Fall sei vergessen, Leuten, deren Gedächtnis ich mit meinem Aufruf auf die
Sprünge geholfen habe, Leuten, die bisher gewisse Hemmungen hatten, sich zu
melden.»
«So was soll’s geben», räumte
Morse ein.
Der Sessel knarrte, als Strange
sich vorlehnte und fast gütig lächelnd das leere Glas vorstreckte. «Ein
Genuss!»
Morse schenkte nach und stellte
eine nahe liegende Frage: «Sie hatten ursprünglich zwei Inspektoren auf den
Fall angesetzt...»
«Drei.»
«...mehrere Sergeants, wer weiß
wie viele Polizisten und Polizistinnen...»
«Uniformierte Ordnungskräfte
meinen Sie wohl. Alles andere gilt als sexuell diskriminierend. Wobei mir
einfallt: Hat man Ihnen eigentlich mal sexuelle Belästigung vorgeworfen?»
«Selten. Höchstens war es
umgekehrt.»
Strange feixte und trank
genüsslich einen Schluck von seinem Scotch. «Ich wollte Sie nicht
unterbrechen...»
«Ja, wie gesagt: Sie hatten
jede Menge Leute auf den Fall angesetzt, die sich eingehend mit ihm
beschäftigt, die mit ihm gelebt haben, die...»
«...dabei keinen Schritt
weitergekommen sind.»
«Vielleicht sollten wir da
nicht zu streng sein. Wir werden nie alles aufklären können. Die Mathematiker
haben dreihundert Jahre gebraucht, um Fermats letzten Satz zu lösen.»
«Hm.» Strange schwenkte sein
Glas und hielt es ans Licht wie ein Preisrichter den Humpen beim Bierfestival.
«Die gleiche Farbe wie meine Urinprobe im Radcliffe.»
«Nur dass Scotch besser
schmeckt.»
«Hören Sie zu, Morse. Ich bin
kein Kreuzworträtselexperte wie Sie. Manchmal kriege ich nicht mal das Kaffeepausenrätsel
im Mirror raus. Aber eins weiß ich. Wenn man nicht mehr weiterkommt...»
«...was selbst Könnern hin und
wieder passiert...»
«...gibt es nur eine
Möglichkeit. Sie lassen das Rätsel liegen, gehen weg, stellen sich Brigitte
Bardot als süße Siebzehnjährige vor, setzen sich wieder dran und — Eureka! Das
ist wie bei einem Namen. Je mehr man sich den Kopf darüber zerbricht, desto
weniger fällt er einem ein, aber wenn man eine Weile nicht mehr dran denkt und
dann einen zweiten Anlauf macht...»
«Ich hatte, abgesehen von ein,
zwei Tagen ganz am Anfang, noch nicht mal einen ersten Anlauf genommen.
Bekanntlich war ich mit einem anderen Fall beschäftigt und außerdem nicht in
Bestform, ich war ja gerade erst aus dem Krankenhaus gekommen.»
«Ich muss den Fall wieder
aufrollen, Morse. Sie wissen warum.»
«Versuchen Sie’s bei einem
anderen.»
«Sie wollen es sich nicht
wenigstens überlegen?»
«Ich habe Urlaub», sagte Morse
jetzt leicht gereizt. «Ich bin ausgebrannt. Ich schlafe schlecht. Ich trinke zu
viel. Ich bin niemandem verpflichtet. Ich habe keine Angehörigen mehr. Ich sehe
nicht allzu viel Sinn in meinem Leben...»
«Mir kommen gleich die Tränen!»
«Mit einem Wort: ohne mich!»
«Das ist Ihr letztes Wort?»
«Ja.»
«Sie wissen, dass ich es nicht
nötig habe, Sie auf den Knien anzuflehen. Ich mag Ihnen gegenüber nicht den
Vorgesetzten herauskehren, Morse, aber vergessen Sie bitte nicht, dass ich es
könnte, wenn ich wollte.»
«Warum versuchen Sie Ihr Glück
nicht bei einem Kollegen?»
«Na gut: Vergessen Sie, was ich
eben gesagt habe. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich bitte Sie um einen
Gefallen, Morse. Einen persönlichen Gefallen.»
«Vielleicht bin ich bald ja gar
nicht mehr da.»
«Was soll das heißen?»
Doch Morse schien kaum
hinzuhören; er sah aus dem Fenster auf sein Fleckchen Grün, wo ein kleiner
Vögel mit grauem Kopf und dunklen Blockstreifen auf dem Rücken sich unter den
schon viel leerer gewordenen Erdnussbehälter gesetzt hatte.
«Sehen Sie mal!» Er reichte
Strange das Fernglas. «Nur ein paar Nüsse — und schon stellen sich die
seltensten Vogelarten ein. Ich muss noch das Gefieder nachschlagen, aber...»
Strange hatte bereits — mit
erstaunlich geübtem Griff, wie Morse fand —
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