Und kurz ist unser Leben
die Haustür aufmachte,
hatte Barron gerade seinen Aufstieg begonnen. Die linke Hand lag auf einer
schulterhohen Sprosse, in der Rechten hatte er eine Säge mit eng gezähntem Blatt,
einen langen Meißel und ein rotes Stanley-Messer mit kurzer Klinge.
«Passen Sie gut auf sich auf!
Bitte!»
Der Maurer nickte. Eine Sprosse
(oder Runge) nach der anderen an einem Punkt knapp oberhalb seiner Schultern
packend, erklomm er in gemessenem Tempo, professionell und zuversichtlich die
zweifach verlängerte Leiter. Er liebte Höhen, seit der Pfarrer der
Johanneskirche in Burford ihn und die anderen Chorknaben mit aufs Kirchendach
genommen hatte. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben hatte er an jenem Tag ein
Gefühl der Macht und Überlegenheit gehabt, als er sich völlig sicher und mit
einem seltsamen Hochgefühl dort oben frei bewegte, während die anderen sich
ängstlich an den schmalen Simsen entlangschoben.
Heute ging es ihm nicht anders.
Als er die drittletzte Sprosse
erreicht hatte, hob er den Kopf und erkannte, dass er mühelos an dem stehenden
Dachfenster würde arbeiten können. Dann sah er nach unten, wo die Leitern, wie
es sich gehörte, in der Mitte ein bisschen durchhingen, ansonsten aber bombenfest
standen. Komisch, die meisten Leute dachten, dass einem in luftiger Höhe nichts
passieren konnte, solange man nicht nach oben oder nach unten guckte. Blödsinn!
Man musste nur vermeiden, nach rechts oder links zu sehen, denn dann bestand
(zumindest für ihn) tatsächlich die Gefahr, jedes Gefühl für Vertikale und
Horizontale zu verlieren. Er steckte sein rotes Stanley-Messer erst in den
oberen Fenstersturz, dann in die Fensterbank, wo es in dem morschen Holz fast
keinen Widerstand fand. Angesichts der Jahreszahl, die er über der Tür gelesen
hatte, war das ja auch kein Wunder. Er befestigte — das machte er immer so —
das obere Ende der Leiter an der Regenrinne und begann mit der Arbeit.
Zur vereinbarten Zeit goss Mrs.
Bayley kochendes Wasser über einen Teebeutel, drückte ihn mit der Küchenzange
aus und gab zwei gehäufte Teelöffel Zucker dazu. Als sie den dampfenden Becher
und zwei Kekse auf ein rundes Tablett gestellt hatte und sich gerade auf den
Weg nach unten machen wollte, zog etwas sehr Sonderbares über ihr Gesichtsfeld:
Zwei schräge parallele Linien überquerten fast im Zeitlupentempo den länglichen
Rahmen des Fensters im ersten Stock. So fest hatte sich dieses flüchtige
Phänomen ihrer Netzhaut eingeprägt, dass sie es am Nachmittag genau beschreiben
und sich auch den markerschütternden Schrei des Mannes in Erinnerung rufen
konnte, der mit dem Kopf voran kaum einen Meter von ihrer Haustür entfernt auf
dem festgestampften Fußweg unter ihr landete.
«Tot», hatte der Sanitäter
leise zu ihr gesagt, nur sechs Minuten, nachdem sie in unbeschreiblicher
Aufregung den Notruf verständigt hatte. Unwiderruflich tot.
Fast eine Stunde lang weinte
Mrs. Bayley hemmungslos. Es waren Tränen des Schocks, aber auch des schlechten Gewissens,
denn schließlich war er ja, wie sie sich immer wieder sagte, auf ihre
Veranlassung hin gekommen. Sie hatte seinen Namen unter den alphabetisch im
Telefonbuch, genauer gesagt in den Gelben Seiten aufgeführten Baugeschäften
gefunden. Genau dort, wo auch Sergeant Lewis die Adresse von J. Barron, Maurer-
und Malerarbeiten, mit einer Telefonnummer in Lower Swinstead entdeckt
hatte.
Kapitel
42
Und
zu was ist ein Buch ohne Bilder oder Gespräche nütze?
(Lewis
Carroll, Alice im Wunderland)
Hätte er nichts von dem Umfeld
gewusst, in dem der scheinbare «Unfall» sich abgespielt hatte, hätte Lewis nie
vermutet, dass es sich um einen Mord handeln könnte. So aber war er überzeugt
davon, dass es Mord war, und hatte vor vier Stunden in persönlicher Verantwortung
eine weitere Mordermittlung mit allem Drum und Dran in Gang gesetzt. Dasselbe
Spurensicherungsteam wie bei dem Mord in Sutton Courtenay. Dieselbe Pathologin,
auch sonst alles wie gehabt, nur waren die Erstmaßnahmen offenbar schon
abgeschlossen, als endlich kurz vor drei Uhr Morse auftauchte und wenig später
in Mrs. Bayleys Nordzimmer im Erdgeschoss Platz nahm.
«Hat Northamptonshire es
geschafft?», fragte er den Mann von der Spurensicherung.
«Nächstes Jahr vielleicht»,
sagte Eddie Andrews pessimistisch.
«Ohne mich wären Sie
arbeitslos», fuhr Morse fort. «Genau wie unser Dr. Hobson.»
Doch der Pathologin stand der
Sinn nicht nach lockeren Sprüchen, und sie überhörte
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