Und kurz ist unser Leben
Anthropologe vom University College,
Oxford, war mit 67 Jahren gestorben — zwei Monate nach seiner Pensionierung und
vier Monate nach dem Erwerb der Immobilie in der Sheep Street. Seither hatte
sie oft mit dem Gedanken gespielt, eine der Seniorenwohnungen zu kaufen, die im
Laufe des letzten Jahrzehnts in North Oxford wie Pilze aus dem Boden geschossen
waren, denn ihre derzeitige Bleibe war für sie allein viel zu groß und
unpraktisch. Aber die Kinder und besonders die Enkel kamen gern zu ihr und hatten
ihren Spaß daran, sich in den verwinkelten Räumen zu verirren. Das Problem
waren die Fenster: Neue hätte der Denkmalschutz nie genehmigt, aber die alten
taten es auch nicht mehr, die Rahmen fielen buchstäblich auseinander. Auch die
Fassade musste gestrichen werden — von den Regenrinnen bis hinunter zur
Haustür. Sollte sie das alles auf einen Schlag machen lassen? Vor drei Wochen
hatte sie sich hingestellt und sich alles genau angesehen. Wo sonst würde sie
etwas finden, das so hübsch, so ansprechend war wie dieses Haus?
Nein, sie würde bleiben.
Im Branchenbuch hatte sie unter Maurer- und Malerarbeiten einen gewissen J. Barron gefunden, der gar
nicht weit weg, nämlich in Lower Swinstead wohnte und bereitwillig vorbeikam,
als sie ihn anrief. Er machte einen sympathischen Eindruck, und als er für die
Reparaturen und einen neuen Fassadenanstrich einen annehmbaren (wenn auch nicht
ganz niedrigen) Preis nannte, hatte sie ihm den Auftrag gegeben.
Er hatte versprochen, am
Montag, dem 3.August, um halb acht bei ihr zu sein, und tatsächlich stand er um
diese Zeit pünktlich vor der Haustür von «Collingwood» und klopfte höflich,
wobei er erneut die Verzierungen an der Traufleiste bewunderte.
Mrs. Bayley war in North Oxford
groß geworden und nahm kein Blatt vor den Mund. «Sie sehen aus, als wenn Sie
geradewegs aus dem Schlachthaus kommen, Mr. Barron.»
Der Maurer (sieht bemerkenswert
gut aus, der Bursche, dachte sie) lächelte leicht verlegen, während er an
seinem mit roter Farbe bespritzten Overall hinuntersah. «Nicht meine bevorzugte
Farbe, Mrs. Bayley. Ich denke wie Sie: Eine bessere Farbzusammenstellung als
Schwarz und Weiß und Gelb gibt’s einfach nicht.»
Mrs. Bayley hörte es mit
Genugtuung. «Ja, dann will ich Sie nicht weiter stören. Und auch sonst wird
niemand Sie stören, hier ist es immer sehr ruhig. Möchten Sie später einen
Kaffee?»
«Tee, wenn ich bitten darf,
Mrs. Bayley. Milch und zwei Teelöffel Zucker. So um zehn rum? Bestens.»
Vom Erdgeschossfenster aus
beobachtete sie, wie er die Alu-Leitern vom Lieferwagen holte, ein paar
Sekunden dastand und zum Dachfenster hochsah, dann die erste Verlängerung
herausrüttelte und mit Hilfe eines Seilzuges das zweite, kürzere Zwischenstück
einschob, sodass die Leiter nun zu voller Länge herausgezogen war. Einen
Augenblick hielt er sie senkrecht fest, dann legte er das Ende behutsam, fast
liebevoll an den Rahmen des Dachfensters zehn Meter über seinem Kopf und setzte
das untere Ende fest auf dem gestampften Kies des Fußweges auf. Dieser trennte
die Häuserfassaden von dem breiten Grasstreifen, der zum Rand der etwas über
einen Meter darunter entlanglaufenden Sheep Street führte.
Mehrere Minuten blieb
Mrs.Bayley am Fenster stehen und sah ihrem vielseitig begabten Handwerker bei
der Arbeit zu. Gegenüber lief ein einsamer Jogger mit roten Laufschuhen in
flottem Tempo am Bay Tree Hotel vorbei. Er hatte sich die Kapuze seines
Trainingsanzugs über den Kopf gezogen, vielleicht als zusätzliche
schweißtreibende Maßnahme, vielleicht auch nur, um seine Ohren warm zu halten,
denn es war an diesem Morgen für die Jahreszeit entschieden zu kühl. Für Mrs.
Bayley war Jogging eine ebenso lächerliche wie gefährliche Art und Weise, sich
fit zu halten. Sie hatte den jungen Hochschullehrer aus North Oxford persönlich
gekannt, der das sehr populäre Buch Freuden des Joggens geschrieben und
mit siebenundzwanzig auf einem alles andere als freudvollen Morgenlauf
gestorben war.
Ja, Joggen war eine gefährliche
Sache.
Genau so wie das Besteigen von
Leitern.
Der Anblick ging Mrs. Bayley
zunehmend auf die Nerven. Sie würde sich in das Zimmer im ersten Stock setzen,
das nach hinten hinaus ging, um weiter an ihrem Quilt zu arbeiten und die Angst
um einen Mann zu verdrängen, der (so sah sie es) mit jeder Sekunde seines
Arbeitstages sein Leben riskierte. Doch hielt sie es für ihre moralische
Pflicht, vorher noch eine Warnung auszusprechen. Als sie
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