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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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höre.
    (John
Bangs, 1862-1922)
     
     
    In der Welt des Kriminalromans
werden Alibis häufig ausgeheckt, um den Leser in die Irre zu führen. In der so
genannten «wirklichen» Welt sind sie meist eine wertvolle Hilfe bei der
Eliminierung von Läufern in einem bereits begrenzten Feld, was die Chancen der
Polizei vergrößert, auf den mutmaßlichen Sieger zu setzen. Denn ein Alibi ist
(nur nicht für Morse) ein Alibi: Wenn jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt an
einem bestimmten Ort gesehen wird, ist es sehr unwahrscheinlich, dass dieser
Jemand zur gleichen Zeit an einem anderen Ort gesehen werden kann. Dennoch ist
es manchmal gar nicht so einfach, ein Alibi — das heißt die Behauptung des
Verbrechers, er sei zur entscheidenden Zeit an einem anderen Ort gewesen — zu
erhärten. Alibis können durchaus angezweifelt, genau überprüft und gelegentlich
auch sensationell widerlegt werden.
    Und zwar auf unterschiedliche
Art und Weise.
    Es ist zum Beispiel sehr
unwahrscheinlich, dass an dem ersten Ort eine gut eingestellte Videokamera
angebracht ist, und selbst wenn dies der Fall sein sollte, könnte ein
Elektronikexperte das Beweismaterial manipulieren. Fast immer stützt sich die
Bestätigung eines Alibis deshalb auf die Aussage von Augenzeugen, die, auch
wenn sie ehrlich sind, im Hinblick auf Orte und Uhrzeiten ständig mit den
Tücken des Gedächtnisses zu kämpfen haben, oder aber auf die Aussage
unehrlicher Augenzeugen, die bereit sind, als Freundschaftsdienst oder gegen
Geld erfundene Angaben zu machen. Das Alibiproblem wird noch komplizierter
durch die Behauptung gewisser Sekten, dass es durchaus möglich sei, zu gleicher
Zeit an zwei verschiedenen Orten zu sein, auch wenn zur großen Freude der
Polizei solche bizarren Glaubenssätze derzeit nicht allzu weit verbreitet sind.
    Morse vertrat die Meinung, dass
es wahrscheinlich am besten war, zunächst alle Alibis zu ignorieren mit der nicht
unlogischen Begründung, dass man, wenn auch nur eins verdächtig aussah,
vernünftigerweise davon ausgehen konnte, dass alle mit Vorsicht zu genießen
waren.
    Diese Ansichten hatte Sergeant
Lewis (in mancherlei Varianten) schon des öfteren gehört, und deshalb ging er
am nächsten Morgen das Thema mit der gebotenen Vorsicht an.
    «Meinen Sie nicht, dass es eine
gute Idee wäre, all diese Alibis ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen?
Die Nacht, in der Mrs. Harrison ermordet wurde, der Morgen, an dem Flynn und
Repp ermordet wurden...»
    «Und vergessen Sie den
Montagmorgen nicht.»
    «Glauben Sie etwa immer
noch...»
    Morse hob resignierend die
rechte Hand. «Schon gut. Machen wir eine Liste. Oder vielmehr: Sie machen die
Liste. Kann’s losgehen?»
    Er legte die schlanken Finger
zu einem Schrägdach zusammen, blickte ohne besondere Begeisterung in den
Mittelgrund und zählte auf:
    «Frank Harrison
    Simon Harrison
    Sarah Harrison
    Harry Repp
    John Barron...»
    «Das ist die Auswahlliste?»
    Morse nickte.
    «Okay. Dann prüfe ich am besten
noch mal nach, wo die Betreffenden waren oder hätten sein sollen, zuerst, als
Mrs. Harrison...»
    «Das ist bereits geschehen. Sie
haben die Akten gelesen.»
    «Allzu genau hat man es damals
mit der Überprüfung nicht bei allen genommen.»
    «Es ist lange her, Lewis. Die
Leute vergessen so was oder wollen es vergessen oder tun so, als hätten sie es
vergessen.»
    «Aber so einen Tag? Der Mord an
Yvonne Harrison war der wichtigste Tag in der Geschichte des Dorfes. Da
erinnert sich — wie bei dem Kennedy-Attentat — heute noch jeder, wo er war.»
    «Falsch, Lewis. Die Leute
erinnern sich, wo sie zu der Zeit waren und was sie gemacht haben, als sie von
dem betreffenden Ereignis gehört haben, soweit gebe ich Ihnen Recht. Aber
darüber hinaus? Wissen Sie, was Sie an dem Tag, an dem Kennedy erschossen
wurde, sonst noch gemacht haben?»
    «Nein, das ist richtig.»
    «An wen dachten Sie denn
speziell?»
    «Die Alibis der Familie sind
alles in allem recht dürftig, finde ich. Besonders die von Simon und Sarah. Da
scheint niemand genau nachgehakt zu haben.»
    «Hmm...»
    «Simon sagt, er sei um Viertel
nach fünf von der Arbeit gekommen, habe was gegessen und sei dann ins ABC-Kino
in der Georges Street gegangen, um sich The Full Monty anzusehen. Er
hatte noch die Kinokarte, wenn ich mich recht erinnere.»
    Morse nickte, und Lewis fuhr
fort:
    «Sarah hat an dem Tag an einer
Diabetestagung im Radcliffe Infirmary teilgenommen, das lässt sich beweisen.
Danach hat sie gegenüber im Royal Oak

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