Und kurz ist unser Leben
gekanntes Mitgefühl.
Wenn Gott, wie Ms. Coverley
glaubte, zuweilen Wunder wirken konnte, so war das gar nichts gegen das —
allerdings wesentlich drastischere — Wunder, das Roy Holmes wenig später
vollbrachte. In der nächsten Religionsstunde hatte einer der Jungen aus der
hintersten Reihe sich besonders rüpelhaft und unflätig benommen, Holmes
hingegen die ganze Stunde über nicht einmal den Mund aufgemacht. Nach der
Schule kam der Hinterbänkler mit blutendem Mund, zwei abgebrochenen Zähnen und
einem blauen Auge nach Hause. Niemand konnte sagen, wer dahinter steckte, aber
natürlich wussten alle Bescheid.
Der Albtraum war überstanden,
und die letzten Wochen des Sommertrimesters verbrachte Ms. Coverley relativ
glücklich und zufrieden. Trotzdem war ihr klar geworden, dass sie nicht zur
Lehrerin geschaffen war, und der Direktor nahm ihre schriftliche Kündigung mit
großer Erleichterung entgegen. Sie hatte sich entschlossen, zunächst in Burford
zu bleiben, und verlängerte den Mietvertrag für ihr möbliertes Zimmer um
weitere zwei Monate.
Abends um Viertel nach elf
klingelte es. Vor der Tür stand ein von Alkohol oder Drogen oder beidem
sichtlich angeschlagener Roy Holmes. Er wiederholte fast wörtlich das, was sie
zu ihm gesagt hatte: «Ich brauche Hilfe, und ich kenne eine, die mir ohne
weiteres helfen könnte, wenn sie wollte. Sie, Ms. Coverley.»
Es war nicht viel, was er ihr
zu sagen hatte, und es war nicht viel, was sie eine halbe Stunde später am
Telefon dem Dienst habenden Beamten im Polizeirevier Burford zu sagen hatte.
Und auch er konnte sich kurz fassen, als er seinerseits das Präsidium Thames
Valley verständigte und sofort zur Privatnummer des Beamten durchgestellt
wurde, der die Ermittlungen im Mordfall J. Barron leitete.
Roy Holmes, Schüler an der
Mittelschule Burford, fünfzehn Jahre alt, wohnhaft Witney Street 29A, war am
Montag, dem 3. August, gegen zehn mit seinem Mountainbike auf der Südseite der
Sheep Street einen Fußweg entlanggefahren. Nach eigenem Geständnis hatte er auf
dem Rad renommiert, in der Gegend herumgespuckt, Fußgänger angepöbelt, war
freihändig gefahren und hatte sich schließlich allem Aberglauben zum Trotz
entschlossen, unter der Leiter durchzuradeln, die er vor sich gesehen hatte.
Dabei hatte er sich schwer verkalkuliert, war mit Wucht gegen die Holme
gestoßen, die Leiter war seitlich verrutscht, und dann kam plötzlich ein Mann
von der Leiter gepurzelt und landete auf dem festgestampften Kiesweg vor dem
Haus «Collingwood».
Kapitel
49
Gott
schütze, alter Seemann, euch
Vor
den Geistern, die euch verdrießen!
Was
blickt Ihr so stier? «Mit dem Bogen mein
Den
Albatros tat ich erschießen.»
(Coleridge, Die Ballade vom alten Seemann)
Am nächsten Morgen wurde Morse
zeitig in Cäsars Zelt beordert.
«Also wirklich, Morse, so geht
das nicht weiter. Sie sagen, wir sollen Barron verhaften, weil er angeblich
Flynn und Repp erstochen hat. So weit, so gut. Ursprünglich, sagen Sie, waren
drei Mann in die Vertuschungsaktion im Fall Harrison verwickelt, drei Mann, die
bereit waren — gegen Bezahlung, versteht sich — an ihren Aussagen festzuhalten.
Dann sind auf einen Schlag zwei Mann tot, und irgendjemand — irgendjemand, Morse! — hält die Gelegenheit für günstig, auch den dritten abzuservieren.
Dieser Jemand sagt sich, dass er sowieso schon mehr als genug geblecht hat, und
macht sich daran, seinen Plan auszuführen. Er hat mit drei Albatrossen am Hals
leben müssen, und plötzlich merkt er, dass jemand ihm zwei abgeschnitten hat.
So eine Chance darf man sich nicht entgehen lassen. Klingt ja alles logisch.
Bis auf die peinliche Tatsache, dass sich Barrons Tod als Unfall entpuppt, den
so ein verdammter junger Lauser...»
Strange holte tief Luft, goss
den letzten Schluck Kaffee hinunter und stopfte sich noch einen Schokoladenkeks
in den Mund. «Wollen Sie auch einen Kaffee?»
«Nein.»
«In einer Stunde gibt’s Bier,
was?»
«Eigentlich schon in fünfzig
Minuten.»
Strange sah plötzlich sehr
zufrieden drein. «Haben Sie gesagt, Morse?»
Es gab eine längere Pause, dann
fragte Strange leise: «Wie ist denn nun wirklich der Stand der Dinge?»
«Wenn ich das wüsste... Ich war
der festen Überzeugung, ein und derselbe Mann — nämlich Barron — hätte sowohl
Flynn als auch Repp ermordet, und zwar aus einem Beweggrund, der recht häufig
ist: Geld. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn Leute, die den gleichen
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