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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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sehen uns morgen früh.»
    «Nur noch eine Kleinigkeit,
Sir. Wir haben schon ein paar Mal versucht, Sie zu erreichen, aber der
Anschluss war immer besetzt.»
    «Merkwürdig. Soweit ich weiß,
habe ich nur ein Gespräch geführt...»
    «Ich dachte, vielleicht... Sie
waren ganz schön fertig...»
    «Irrtum, Lewis. Es stimmt
schon, ich hätte mich beinah ins Bett gelegt. Aber nur beinah. Gute Nacht.»
     
    Die dramatische Meldung kam
zwanzig Minuten vor Mitternacht, als Morse in seiner Wohnung über dem ersten
Entwurf für sein Testament saß. Er hatte keine lebenden Angehörigen mehr,
deshalb waren bei den Anweisungen für die Verteilung seiner weltlichen Güter
nach seinem Hinscheiden keine größeren Komplikationen zu erwarten. Er war
gerade dabei, einen einfachen zweiten Entwurf ins Reine zu schreiben, als das
Telefon läutete.
    «Was?»
    …
    « Was?»
    Erst zwei Minuten später machte
er wieder den Mund auf. «Ich komme gleich rüber.»
     
     
     
     

Kapitel
48
     
    Wir
begehen hoffentlich keine Todsünde, wenn wir feststellen, dass der
Religionsunterricht in manchen Schulen selbst für den Allmächtigen eine
allmächtige Herausforderung darstellen würde.
    (Aus
der Einführung zu Religionsunterricht in weiterführenden Schulen 1967-87, herausgegeben vom Bildungsministerium)
     
    Roy Holmes, fünfzehn, war ein
absolut chaotischer Schüler, seiner kranken Mutter, mit der er das Haus in der
Witney Street teilte, ein rebellischer und rücksichtsloser Sohn und für seine
Umgebung eine wandelnde Zeitbombe. Er nahm Drogen, war ein unverbesserlicher
und gewiefter Ladendieb, knickte frisch gepflanzte junge Bäume um, wo er sie
fand, spuckte die Gehsteige von Burford mit widerlichem Auswurf voll — kurzum,
Roy Holmes war ein höchst abstoßendes Exemplar der Spezies Mensch, der keine
Freunde verdiente und auch keine besaß.
    Mit einer Ausnahme.
     
    Ms. Christine Coverley, 27, im
zweiten Jahr Lehrerin in der Realschule Burford, war keine beeindruckende
Persönlichkeit. Sie war klein, hager, flachbrüstig, verpickelt, kurzum, eine
graue Maus, die kaum auf Verehrer hoffen konnte — weder unter ihren Kollegen
noch unter der bunt gemischten Schar von Schülern, die sie laut Stundenplan zu
unterrichten hatte. Und sie hatte auch keine Verehrer.
    Mit einer Ausnahme.
    Ihrer mangelnden pädagogischen
Fähigkeiten wohl bewusst hatte die Schulleitung sie — faute de mieux —
für den Religionsunterricht eingesetzt und sie damit hoffnungslos überfordert.
Ihre Schüler ätzten und hämten gnadenlos gegen sie, und immer wieder ging es in
ihrem Unterricht so laut zu, dass Lehrer aus den benachbarten Klassenzimmern
hereinkamen, um für Ruhe zu sorgen — nur um zu ihrer peinlichen Überraschung
festzustellen, dass vor der lärmenden Schülerschar eine hilflose Lehrkraft
stand. Noch peinlicher waren diese Vorkommnisse natürlich für Ms. Coverley. Sie
bescherten ihr schreckliche Albträume und oft unerträgliche Seelenqual. In der
Klasse vier für lernschwache Schüler, die Holmes besuchte, ging es besonders
turbulent zu, denn diese Horde heidnischer Hornviecher beiderlei Geschlechts
war durch nichts für die Verkündigungen der großen und kleinen Propheten zu
begeistern. Die Konfrontation mit diesen kleinen Ungeheuern war für Ms.
Coverley eine Prüfung, vor der sie jede Woche neu zitterte. Die Situation war
hoffnungslos. Oder doch nicht ganz: Jeden Abend warf sie sich in ihrem
möblierten Zimmer auf die Knie und erflehte vom Allmächtigen Erlösung aus
dieser schrecklichen Lage. Und eines Tages wurde ihr Gebet erhört.
    Als im Sommertrimester eine
besonders katastrophale Stunde in der Klasse vier zu Ende gegangen war und ihr
Tränen der Demütigung in den Augen brannten, hatte sie Holmes, diesen
großspurigen Büffel, angesprochen, der gerade das Klassenzimmer verlassen
wollte:
    «Roy! Ich weiß, dass ich zu
nichts zu gebrauchen bin. Wenn ich ein bisschen Hilfe bekäme, wäre ich anders.
Aber mir hilft ja niemand. Dabei kenne ich jemanden, der mir ohne weiteres
helfen könnte, wenn er wollte. Dich, Roy.»
    Sie wandte sich ab, wischte
sich über die nassen Wangen, griff nach ihren Büchern und ging hinaus.
     
    Roy Holmes war wie angewurzelt
stehen geblieben. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte ihn jemand um Hilfe
gebeten. Ihn, den Schrecken seiner Mutter, seines Pfarrers, der Sozialarbeiter,
des Direktors, der Polizei. Die Worte der Lehrerin hatten ihn ganz eigenartig
berührt. Tief in ihm regte sich ein ungeahntes, kaum

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