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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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haben sie uns alle
angeschwindelt, Sir. Bis auf Mrs. Barron vielleicht.»
    Morse lächelte. «Meinen Sie
nicht vielleicht besonders Mrs. Barron?»

Kapitel
59
     
    Wo
immer Gott ein Gotteshaus begründet,
    Da
baut der Teufel ein Kapellchen nebendran,
    Und
jede Untersuchung sicher findet,
    Dem
Letztren hängt die größere Gemeinde an.
    (Daniel
Defoe, The Trueborn Englishman)
     
    Mrs. Linda Barron schritt
gemessen durch den Mittelgang der Kapelle. Sie hatte sich bei ihrer Mutter
eingehakt, und beide Frauen waren pflichtschuldigst in Schwarz.
    Alles in allem war es nicht
ganz so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Allem Praktischen gegenüber war sie
durch den Schock noch immer halb betäubt, und gefühlsmäßig hatte sie schon
lange akzeptiert, dass die Liebe zu ihrem Mann so tot war wie das da vorn in
dem Sarg, vor dem sich jetzt zum Glück die Vorhänge geschlossen hatten. Ende
der Vorstellung. Der Choral aber hätte ihm gefallen. «Er, der alles tapfer
wagt...» Denn tapfer war er gewesen, das wusste sie von seinen Freunden aus der
Army. Tapfer und eitel und tyrannisch und untreu. Ja, der Choral hatte sie
gerührt, und eigentlich hätten da die Tränen kommen müssen.
    Aber ihre Augen waren trocken
geblieben.
    Draußen in der hellen Sonne
flüsterte sie ihrer Mutter ins Ohr: «Falls jemand fragt, denk an das, was ich
dir gesagt habe. Den Kindern geht’s gut. Alles klar?»
    Die Großmutter antwortete
nicht. Sie wäre die Letzte gewesen, die ihre Enkelinnen — besonders die eine —
im Stich gelassen hätte. Unterdessen wappnete sich Linda gegen die auf sie
zubrandenden Beileidsbezeugungen.
    Schon kamen die ersten
Familienmitglieder und Freunde ihres verstorbenen Mannes, J. Barron, Maurer-
und Malerarbeiten, aus der Kapelle. Unter anderem Thomas Biffen, Gastwirt, dem
das verknitterte weiße Hemd so knapp um den Hals saß, dass er unter dem
schwarzen Schlips den obersten Knopf hatte aufmachen müssen. Unter anderem die
permanenten Kontrahenten Alf und Bert, die in der Kapelle kein Wort gewechselt
hatten, sich aber in Gedanken wohl einträchtig mit ihrem Ende und der Aussicht
beschäftigt hatten, im Himmel dem Großen Cribbage-Spieler zu begegnen.
    Unter anderem Frank Harrison.
    Chief Superintendent Strange,
der in der letzten Reihe neben Morse gesessen hatte, verließ die Kapelle als
Vorletzter. Während des kurzen Gottesdienstes waren seine Gedanken respektlos
abgeschweift. Dass der pensionierte Pfarrer offenkundig ganz fest an die
Auferstehung der Toten glaubte, hatte ihn eher erschreckt als getröstet. Er dachte
an seine Frau und ihren Tod und empfand das vertraute Schuldgefühl, das noch
immer nach Buße verlangte. Gegen den Choral war nichts zu sagen, auch wenn er
sich persönlich in den «Anweisungen für meine Beerdigung», die an seinen
letzten Willen angeheftet waren, für «Lobet den Herren» entschieden hatte.
Alles in allem aber fürchtete er Gottesdienste fast so sehr wie den Mann, der
neben ihm gesessen hatte, und konnte sich nichts Abscheulicheres als eine
Beerdigung vorstellen.
    Morse hatte sich angesichts der
modernisierten Fassung der Trauerliturgie innerlich geschüttelt. Keine Spur war
geblieben von dem klangvollen Rhythmus der alten Bibelübersetzung und des
Gebetsbuches, von Sätzen wie «Denn dies Verwesliche muss anziehen die
Unverweslichkeit», die ihn als jungen Mann so machtvoll bewegt hatten. Ja,
sogar der Choral, den sie ausgesucht hatten, klang abartig munter. Kein
Vergleich mit dem getragen-sentimentalen Kirchenlied «O Liebe, die du mich
nicht lässest», das er für seinen eigenen Abschied gewählt hatte, ehe er vor
kurzem entschieden hatte, seine Leiche der medizinischen Forschung zur
Verfügung zu stellen. Allerdings waren ihm inzwischen heftige Zweifel an der
Weisheit dieser Entscheidung gekommen. Besonders die tückische Klausel in
Unterabschnitt 6 des Formulars Di verursachte ihm immer noch Bauchgrimmen:
«Sollte Ihr Vermächtnis akzeptiert werden...»
    Betont mied er den Pfarrer, der
die Trauerfeier zelebriert hatte, einen nach Morses Ansicht übertrieben
kirchlich gewandeten Menschen, dem jedes Gefühl für die englische Sprache
abging, kondolierte aber mit ein paar kurzen, wohlgesetzten Worten der Witwe,
schüttelte ihr fest die schwarz behandschuhte Pfand und wandte sich dann an
ihre Mutter.
    «Mrs. Stokes?»
    «Ja?»
    Morse stellte sich vor. «Als
mein Sergeant bei Ihrer Tochter war, haben Sie, soviel ich weiß, die Kinder
gehütet. Das war sehr nett von Ihnen. Muss

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